Die Osterinsel im Südostpazifik gilt als Paradebeispiel für ein wiederkehrendes Muster: Menschen beuten die Umwelt aus, bis ihre Lebensgrundlage zerstört ist. Doch war die Insel wirklich bewaldet und brach die Bevölkerungszahl nach dem Verschwinden der Bäume ein?

Die meisten der bis zu zehn Meter hohen Statuen mit den grossen Köpfen sind Richtung Inland gewendet; nur wenige blicken aufs Meer, in die endlose Weite: Das nächste bewohnte Eiland ist 2000 Kilometer entfernt, das Festland 3000 Kilometer. Wenn sie doch nur sprechen könnten! Sie könnten klären, worüber Wissenschafter seit Jahrzehnten leidenschaftlich streiten: was in den Jahrhunderten vor der europäischen Entdeckung auf der Osterinsel passierte.

In der Debatte um die Geschichte der Osterinsel, in der indigenen Sprache Rapa Nui genannt, gibt es, vereinfacht gesprochen, zwei Lager: Das eine geht davon aus, dass die Insel einst baumbestanden und von vielen inzwischen ausgestorbenen Tier- und Pflanzenarten belebt war. Aufgrund verschiedener Faktoren, darunter auch der Bedarf an Holz für den Transport der berühmten Statuen, wurde die Insel entwaldet. Der Boden erodierte, die Menschen konnten nicht mehr ernährt werden, und die Bevölkerungszahl brach ein.

Das andere Lager findet, dass man damit die Schuld den indigenen Bewohnern der Insel in die Schuhe schiebe, und präsentiert immer wieder neue Hinweise, dass es auf Rapa Nui weder viele Bäume noch viele Menschen gegeben habe und deshalb auch keine Umweltzerstörung stattgefunden haben könne.

In diese Kerbe schlägt nun eine Studie in der Fachzeitschrift «Science Advances», in der die Bevölkerungsgrösse anhand einer bestimmten Art von landwirtschaftlicher Struktur auf der Insel geschätzt wird: Auf dieser Grundlage hätten nie mehr als etwa 3000 Menschen ernährt werden können. Diese Zahl decke sich mit dem, was die ersten europäischen Besucher berichtet hätten – einen Einbruch der Bevölkerungszahl in vorgeschichtlicher Zeit habe es also nicht gegeben.

Die These vom Kollaps und vom «Ökozid» – und die Kritik daran

Der populärste Vertreter der These von der Entwaldung und der Überbevölkerung ist der Biologe Jared Diamond. In seinem 2005 erschienenen Buch «Collapse» beschreibt er die Osterinsel als Paradebeispiel für ein in allen Teilen der Welt und zu allen Zeiten wiederkehrendes Muster: Menschen beuten ihre Umwelt so lange sehenden Auges aus, bis ihre Lebensgrundlage zerstört ist und die Gesellschaft kollabiert.

Diamond stützt sich auch in seiner Darstellung der Osterinsel auf die Forschung von Biologen, Archäologen und Geowissenschaftern; er entwirft ein grosses Bild, weist aber auf Unsicherheiten hin und lässt nicht unerwähnt, dass die von den Europäern eingeschleppten Krankheiten und Versklavung die Bevölkerung weiter dezimierten.

Trotzdem erregte sein Buch Widerspruch; eine Gruppe von Wissenschaftern publizierte 2009 unter dem Titel «Questioning Collapse» («Infragestellung von Kollaps») eine Reihe von Aufsätzen, die seine Thesen kritisierten. In diesem Buch, aber auch in vielen weiteren Aufsätzen zweifeln vor allem zwei Autoren den «Ökozid» auf der Osterinsel an: Terry L. Hunt und Carl P. Lipo – die Hauptverfasser der nun erschienenen Studie. Es ist also nicht überraschend, dass sie jetzt noch einmal nachlegen.

Süsskartoffel-Erträge als Grundlage für die Schätzung der Bevölkerungsgrösse

Hunt und Lipo versuchen, das Ausmass der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche auf der etwa 165 Quadratkilometer grossen Insel zu rekonstruieren. Aufgrund der klimatischen Bedingungen ist der Anbau von Pflanzen schwierig. Die Bewohner der Insel schichteten Steine als Windschutz auf und nutzten die in vielen trockenen Gegenden verbreitete Technik des sogenannten Steinmulchens, bei der Steine in die obersten Schichten eingearbeitet werden. Diese Methode erhöht die Verfügbarkeit von Nährstoffen und Wasser und sorgt für eine besseres Mikroklima.

Hunt und Lipo haben diese Steingärten mithilfe von künstlicher Intelligenz auf Satellitenbildern identifiziert, hauptsächlich an der Küste; ihre Gesamtfläche betrage 0,76 Quadratkilometer. Sie widersprechen damit einer früheren Schätzung eines anderen Wissenschafters, der von 4,3 bis 21 Quadratkilometern ausgegangen war.

Auf der Grundlage dieser Fläche schätzen die Autoren nun die ehemalige Bevölkerungszahl. Denn, so geben sie an, die wichtigste Feldfrucht sei die Süsskartoffel gewesen. Die übrigen Nahrungsmittel, Bananen, Yams, Taro, Zuckerrohr und marine Ressourcen, hätten eine weit geringere Rolle gespielt.

Sie berechneten, welche Mengen von Süsskartoffeln sich auf den 0,76 Quadratkilometern ernten liessen und wie viele Menschen so ernährt werden konnten: Es seien 2000. Für die übrigen Ressourcen liessen sich noch einmal 50 Prozent hinzurechnen, so kommen sie auf die Zahl von 3000 Menschen, die auf der Osterinsel maximal überleben konnten.

Dies entspreche genau der von den ersten europäischen Besuchern im 18. Jahrhundert geschätzten Zahl. Die Zahl sei also stabil gewesen, einen Einbruch der Bevölkerungszahl in vorgeschichtlicher Zeit habe es nicht gegeben.

Die Studie lässt viele Daten ausser acht

«Diese Studie präsentiert neue Ergebnisse, die im Widerspruch zu fast aller anderen archäologischen Literatur zu diesem Thema stehen», kommentiert Jo Anne Van Tilburg auf Anfrage in einer E-Mail. Die Archäologin von der University of California forscht seit 1982 auf der Osterinsel und hat unter anderem herausgefunden, dass in dem Steinbruch, in dem die Statuen hergestellt wurden, auch Landwirtschaft betrieben wurde. «Der Studie fehlt eine profunde Kenntnis der komplexen archäologischen Landschaft von Rapa Nui, die über Jahrzehnte von vielen internationalen Forschern dokumentiert worden ist.»

So lägen eben nicht alle Steingärten an der Küste, sondern viele auch im höher gelegenen Hinterland, schon deshalb sei die Gesamtfläche von 0,76 Quadratkilometern nicht plausibel. «Die fehlenden Daten sind alle sehr einfach erhältlich, aber laut dieser Studie gibt es sie gar nicht», bemängelt Van Tilburg.

Die Steingärten taugten weder als Grundlage für eine Rekonstruktion des Ernährungssystems noch für die Schätzung der Bevölkerungszahl noch als Beweis, dass es keinen Kollaps gegeben habe. Denn Steingärten seien nur eine von insgesamt vierzehn verschiedenen Arten von Strukturen, die dem Lebensunterhalt der Menschen dienten. Diamond beschreibt in seinem Buch die vielen steinernen Hühnerhäuser, die die Landschaft prägen. Van Tilburg sagt: «Ohne alle Bestandteile des Ernährungssystems einzubeziehen, ganz zu schweigen von ihrer Chronologie – wie soll es da möglich sein zu entscheiden, ob das System nachhaltig war oder nicht?»

Ob die These vom Kollaps stimme oder nicht, so schliesst Van Tilburg, darüber könne man weiter diskutieren. Die neue Studie, das steht fest, wird diese Diskussion nicht beenden.

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