Samstag, November 23

Annette Hauschild, Verhüllter Reichstag Christo & Jeanne-Claude
© Pro Litteris

Nach dem 9. November 1989 löst sich die ostdeutsche Welt auf, und Berlin wird zu einer anderen Stadt. Mittendrin: Fotografinnen und Fotografen der Agentur Ostkreuz. Eine Ausstellung zeigt nun ihre Bilder.

Am 9. November 1989 verkündet das Zentralkomitee der DDR in einer konfusen Pressekonferenz neue Regeln für die Ausreise. Es ist eine Reaktion auf die friedlichen Proteste der Bürgerrechtsbewegung. Am selben Tag sammeln sich vor den Grenzübergängen grosse Menschenmengen. Die Grenzbeamten sollen die Tore öffnen, fordern sie. Irgendwann geben die Beamten nach. Die Mauer fällt.


Mitten in Berlin, wo vorher die Mauer war, gibt es plötzlich grosse, weite Flächen. So zum Beispiel am Potsdamer Platz. Die Flächen laden dazu ein, sie mit Leben zu füllen, mit Ideen und Visionen. Andere merken: Die Flächen sind ihre grosse Chance für ein gutes Geschäft.


Am 1. Juli verbinden sich Ost- und Westdeutschland im Rahmen der Wirtschafts- und Währungsunion. Noch vor der Wiedervereinigung der beiden Staaten wird damit eine gemeinsame Währung eingeführt. Am Alexanderplatz stürmen die Menschen eine Bankfiliale, Fensterscheiben zerbersten. Die Kaufhallen des Ostens füllen sich mit Ware aus dem Westen.


Der Potsdamer Platz war lange ein «Unort» zwischen Ost und West. Nun, im Jahr 1994, ist hier ein neues Zentrum entstanden. Private Investoren haben den Platz zu einem neuen Stadtteil umgepflügt. Doch viele stören sich daran. Und die Debatte um die Nutzung und Bebauung des Potsdamer Platzes wird bald zur symbolischen Frage darüber, wem Berlin eigentlich gehört.


Im Mai 1990 besetzen Menschen aus Ost und West in der Mainzer Strasse im Stadtteil Friedrichshain dreizehn Häuser. Gemeinsam träumen sie von einem autonomen Leben. Wenige Monate später, im November, räumt die Polizei die Häuser in einem Grosseinsatz, es kommt zu massiven Auseinandersetzungen. Noch heute steht die Mainzer Strasse symbolisch für die Bewegung der Hausbesetzer im Berlin der frühen 1990er Jahre.


Bild links: Tresor, 2000. Bild rechts: Love Parade, vor Diskothek Tresor, 2000.

Im ehemaligen Tresorraum des jüdischen Kaufhauses Wertheim entsteht im Jahr 1991 ein Klub. Das Gebäude war von den Nationalsozialisten beschlagnahmt worden. Nun beginnt ein neuer Abschnitt seiner Geschichte: Der Klub Tresor wird zu einem der bedeutendsten Orte der Berliner Technoszene. Im Jahr 2005 muss der Klub schliessen. Das Kaufhaus wird abgerissen, es entsteht eine Shoppingmall.


Anfang der 1990er Jahre stehen im Osten Dutzende Häuser leer. Sie werden zum Experimentierfeld kreativen Schaffens. Junge Menschen verspüren den Drang, das kulturelle und politische Geschehen Berlins zu beeinflussen. So bewahrt eine Gruppe im Jahr 1990 zum Beispiel ein ehemaliges Kaufhaus in der Oranienburger Strasse vor dem Abriss. Die Künstlerinitiative Tacheles funktioniert das Gebäude zum Kunst- und Veranstaltungszentrum um.


Nach der Wiedervereinigung wächst nicht nur die kreative Szene in Berlin. Auch die rechtsradikale Bewegung wird immer grösser. Im Bild: ein Treffen von Neonazis in einer Kneipe in Berlin-Lichtenberg.


Bild links: Neuer Platz, 1999. Bild rechts: Die neue Mitte, 2001.

Im Jahr 1991 stimmt der Bundestag in Bonn dafür, den Regierungssitz nach Berlin zu verlegen. Im Jahr 1999 zieht der Bundestag in den Reichstag ein, der Bundeskanzler Gerhard Schröder ins frisch erbaute Kanzleramt. Von nun an konzentrieren sich Politik, Macht, Medien in Berlin. Die Stadt wird zur europäischen Metropole.


Jeden Sommer verändert sich Berlin, die Stadt wacht auf. Dort, wo früher die Mauer war, entstehen Häuser, Klubs, Imbissbuden. Auf dem ehemaligen Grenzstreifen der Berliner Mauer in Berlin-Mitte steht nun eine Imbissbude.


Ende der 1990er Jahre bewegen sich junge Menschen durch die Stadt, die Berlin nur ohne Mauern kennen. Sie wachsen auf zwischen Kommerz und Globalisierung. Ihr Kiez ist der Prenzlauer Berg. Die Gentrifizierung beginnt.


Auch in Neukölln, einem alten Arbeiterbezirk, tut sich etwas. Um die Jahrtausendwende wird das Viertel vielfältiger, es pulsiert – trotz Armut und Arbeitslosigkeit. Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen finden hier zusammen, sie kommen aus der Türkei, aus Nahost, aus Ex-Jugoslawien. Sie prägen den Kiez.


Im Jahr 1999 ist noch immer sichtbar, wo die Mauer einst auf 43 Kilometern die Stadt teilte. Eine sichtbare, freie Fläche zieht sich wie eine Wunde durch die Stadt. Im Bild: ein Mauerstreifen bei der East Side Gallery in Friedrichshain.

Ausstellung: «Träum weiter – Berlin, die 90er», bis zum 22. Januar im C/O Berlin. Buch: Katalog Spector Books, 54 Franken.
Print-Edition: Berlin-Motive aus den 1990er Jahren der Agentur Ostkreuz.

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