Die ehemalige Kolonialmacht zieht ihre Truppen aus Tschad und Senegal ab. Ein Grund dafür ist Afrikas junge Bevölkerung.
In den vergangenen Monaten hat sich im westafrikanischen Sahel ein Umbruch ereignet, den man – bei aller Vorsicht vor dem inflationären Gebrauch des Begriffes – als historisch bezeichnen kann. In ihrer eigenen Wahrnehmung wurden die afrikanischen Regierungen, die Akteure dieses Umbruchs waren, jetzt erst wirklich unabhängig von Frankreich. Die Mehrheit der Bevölkerung teilt diese Überzeugung.
Durch diesen Umbruch hat sich nicht nur das Verhältnis der ehemaligen westafrikanischen Kolonien zu Frankreich verändert, sondern jenes zum Westen insgesamt. Das hat Folgen für das globale Machtgleichgewicht und die globale Sicherheitsarchitektur.
Wie konnte es passieren, dass Frankreich seinen Einfluss im Sahel nach jahrzehntelanger Dominanz innerhalb so kurzer Zeit verlor? Und war die Entwicklung wirklich so überraschend, wie das die Menschen im Westen empfunden haben?
Der Westen hat die Entwicklungen im Sahel übersehen
Um das zu beantworten, ist eine kleine Episode aufschlussreich. Im September 2023 präsentierten junge Menschen in der tschadischen Hauptstadt Ndjamena, was sie auf der COP28 gerne vorstellen würden. Sie hofften auf Sponsoren für ihre Reise zur Weltklimakonferenz.
Der Präsentation wohnte auch ein europäischer Diplomat bei. Am Rande der Veranstaltung gefragt, ob es in Tschad zu ähnlichen Entwicklungen kommen könnte wie in den anderen Sahelstaaten, wo das Militär geputscht und die Beziehungen zu Frankreich beendet hatte, winkte der Diplomat beruhigend ab: In Tschad sei ein Putsch undenkbar und die Beziehung zu Frankreich stabil.
Dabei riefen in der Hauptstadt einige Strassenhändler weissen Menschen bereits hinterher, sie möchten schnellstmöglich verschwinden, in einer Wortwahl, die noch etwas unfreundlicher war. Und Soumaïne Adoum, Sprecher eines Zusammenschlusses von zivilgesellschaftlichen Gruppen namens Wakit Tama, liess im Interview keinen Zweifel daran, dass die Bevölkerung der französischen Militärpräsenz und des politischen Einflusses mehr als überdrüssig war.
Zwar wurde in Tschad tatsächlich nicht geputscht, aber Präsident Mahamat Idriss Déby Itno kündigte ein knappes Jahr später, Ende November 2024, das Verteidigungsabkommen mit Frankreich auf. Es ist ein harter Schlag für Paris: Frankreich unterhielt seit der Unabhängigkeit seiner ehemaligen Kolonie 1960 am Flughafen von Ndjamena einen seiner grössten Militärstützpunkte in Afrika und das Hauptquartier seiner Anti-Terror-Mission in der Sahel-Region. Geschätzt 1000 französische Militärs sind noch im Land, sie werden voraussichtlich abziehen müssen, auch wenn Tschad dazu noch keine Details genannt hat. Zwei Wochen nach der Kündigung holte Frankreich die ersten Kampfjets vom Typ Mirage nach Hause.
Am selben Tag wie der tschadische Präsident Déby forderte auch der senegalesische Staatschef Bassirou Diomaye Faye Frankreich auf, seine Militärstützpunkte in Senegal zu schliessen. Zur Begründung sagte Faye der Nachrichtenagentur AFP: «Senegal ist ein unabhängiges Land.» Souveränität sei unvereinbar mit der Präsenz von ausländischen Militärstützpunkten. Deutlicher als sein Kollege Déby machte Faye klar, dass alle französischen Militärs Senegal verlassen müssen, 300 sind noch im Land.
Die Antwort auf die Frage, ob es keine Anzeichen für die Entwicklungen im Sahel gegeben habe, muss wohl lauten: Der Westen hat sie nicht wahrgenommen oder zumindest massiv unterschätzt.
Die Wahrnehmung von Afrika ist verzerrt
Um das zu verstehen, lohnt ein Blick auf die Expats, die Augen und Ohren des Westens in anderen Weltregionen. Viele Diplomatinnen, Wirtschaftsvertreter oder Mitglieder von politischen Stiftungen bewegen sich vor allem in den elitären Zirkeln der Hauptstädte. Von der Stimmung auf der Strasse und den Feldern bekommen sie wenig mit. Je mehr sich die Sicherheitslage in den Sahelländern verschlechtert, die vom Terror mehrerer islamistischer Gruppen überzogen werden, desto stärker beschränkt sich der Bewegungsfreiraum der Ausländer auf die jeweiligen Hauptstädte und dort auf die reichen, bestens gesicherten Stadtviertel. Die Realität in diesen Gegenden ist vom Leben der Bevölkerungsmehrheit weit entfernt.
Eine weitere Rolle spielt die Art und Weise der Berichterstattung. Wenn über Afrika oder andere Weltregionen geschrieben und gesendet wird, geschieht das durch einen westlichen Blick. Dadurch werden Entwicklungen viel zu lange nicht beachtet. Zudem wird nicht kontinuierlich aus den afrikanischen Ländern berichtet. Statt dass die Medien über Prozesse berichten und diese dadurch nachvollziehbar werden, geraten die Länder in der Regel erst wieder in den Blick der westlichen Öffentlichkeit, wenn es zu Coups, Kriegen, Krankheiten oder anderen Katastrophen kommt.
Eine unzureichende Wahrnehmung der politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen lässt sich auch auf staatlicher Ebene beobachten. Auch Frankreich hat vermutlich nicht richtig hingeschaut. Die ehemalige Kolonialmacht wurde von einer zunehmenden Zahl von Menschen in den Sahelstaaten als unerträglich arrogant empfunden. Als ein «Partner», der viel von Augenhöhe sprach, aber seine afrikanischen Gegenüber trotzdem nicht ernst nahm.
Ein Beispiel aus Mali: Die französische Armee war in dem Land und anderen Sahelstaaten im Rahmen einer Anti-Terror-Operation aktiv, bis das französische Militär nach einem Putsch in Mali und dem Zerwürfnis mit der anschliessend eingesetzten Militärregierung 2022 von dort abziehen musste. Zu den Gründen für das Zerwürfnis hiess es vor Ort unter anderem, Frankreich habe sich aufgeführt wie eine Besatzungsmacht, habe beispielsweise militärische Flugbewegungen nicht mit den malischen Streitkräften abgestimmt.
Ein Beispiel aus Senegal: Für eine Bitterkeit, die Paris ganz sicher unterschätzt hat, sorgte auch der Umgang mit dem während der Kolonialzeit begangenen Unrecht. Etwas, was sich tief in die kollektive Seele der Senegalesinnen und Senegalesen eingebrannt hatte und erst kürzlich wieder Schlagzeilen machte, ist das Massaker von Thiaroye.
Mangelnde Aufarbeitung der Kolonialzeit
Am 1. Dezember 1944 erschossen französische Soldaten Dutzende, vielleicht sogar Hunderte von «Senegalschützen», die ihr Leben im Ersten und Zweiten Weltkrieg für Frankreich riskiert hatten. Sie stammten aus dem gesamten Kolonialreich Frankreichs in Afrika, darunter das heutige Mali, Guinea, Niger, Benin und Tschad. Viele von ihnen wurden während des Zweiten Weltkriegs von Deutschland gefangen genommen.
1944 wurden die Soldaten befreit und nach Senegal zurückgebracht, wo sie im Militärlager Thiaroye, 15 Kilometer von der Hauptstadt Dakar entfernt, untergebracht wurden. Bei der Rekrutierung wurde ihnen die französische Staatsbürgerschaft versprochen, doch Frankreich löste dieses Versprechen nicht ein. Nach zwei Wochen in Thiaroye protestierten die etwa 1600 «Senegalschützen» gegen die unhaltbaren Zustände im Lager und das Ausbleiben des Solds. Am 1. Dezember beendeten die Franzosen die Proteste gewaltsam.
Die damalige Kolonialverwaltung räumte den Tod von 35 afrikanischen Soldaten ein. Unterschiedliche Schätzungen gehen heute aber von bis zu 400 Toten aus. Erst in diesem Jahr hat Frankreich überhaupt anerkannt, dass ein Massaker verübt worden war. Eine Entschuldigung dafür – und damit auch mögliche Kompensationszahlungen – blieb Präsident Macron gleichwohl schuldig.
Afrikas junge Bevölkerung sucht Alternativen
Was Frankreich ausserdem übersehen hat: wie jung die afrikanische Bevölkerung ist. Im Durchschnitt sind die Menschen nur 19 Jahre alt. Sie sind Internet-affin und weltoffen, verfolgen die globalen Entwicklungen, haben selbstverständlich von der «Black Lives Matter»-Bewegung gehört und sich davon inspirieren lassen. Anders als frühere Generationen haben sie gegenüber den ehemaligen Kolonialmächten keinen Unterlegenheitskomplex mehr. Die junge Generation fordert nun ein Ende der Unterwürfigkeit
Zudem gibt es längst starke Alternativen zu den westlichen Industrienationen. China, die Türkei, Russland, Indien, die Vereinigten Arabischen Emirate – sie alle buhlen um die Staaten im westafrikanischen Sahel und im Rest des Kontinents. Der Westen muss Angebote machen, die besser sind als die der Konkurrenz. Frankreich ist das im Sahel ganz offensichtlich nicht gelungen.

