Der Waadtländer verliess die Schweiz 21-jährig kurz nach dem Krieg. Nach wenigen Jahren in Paris ging Philippe Jaccottet in den Süden Frankreichs und schuf bis zu seinem Tod 2021 in ländlicher Abgeschiedenheit ein immenses dichterisches Werk.

Er suchte die Einsamkeit und fand Freunde; er musste Paris verlassen, um dort anzukommen; er ging in die Natur und kam mit Gedichten zurück. Der vor hundert Jahren im waadtländischen Moudon geborene Dichter Philippe Jaccottet war Schweizer, aber Frankreich hat ihn als einen seiner bedeutendsten Dichter adoptiert. Indessen deutete in seinen Anfängen nichts darauf hin, dass er dereinst zu den wenigen Auserwählten zählen würde, die schon zu Lebzeiten mit einer Werkausgabe in den Olymp der französischen Dichtung, in die Bibliothèque de la Pléiade, aufgenommen wurden.

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Dass er Dichter werden wollte, stand vielleicht nicht von Anfang an fest, obwohl er bereits in frühen Jahren zu schreiben begonnen hatte und von dem älteren Dichterfreund Gustave Roud gefördert wurde. Hingegen wusste er, dass er sich nach dem Studium keinesfalls vom Schuldienst auffressen lassen wollte. So begann er, halb aus Ungewissheit über die Kraft des eigenen Schaffens, halb aus der Not, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, als Übersetzer. Wohl auch in dem festen Glauben, dass ihm das Übersetzen eine Schule der Dichtung sein würde, jedoch wiederum ohne zu ahnen, dass mit seinem übersetzerischen Werk ein dem lyrischen Schaffen ebenbürtiges Monument des Dichtens entstehen würde.

Die Waadt und die Schweiz insgesamt waren ihm freilich zu eng. Philippe Jaccottet strebte nach dem Krieg ins Weite und Offene, er brauchte stärkere Anregung als jene, die er am Ufer des Genfersees finden konnte. Einer Reise nach Italien, wo er den Dichter Giuseppe Ungaretti kennenlernte, folgte im Herbst 1946 der Umzug nach Paris. Hier schrieb und übersetzte er und fand sich alsbald umgeben von Dichtern, die er bewunderte, während sie ihn gleichzeitig einschüchterten.

Offenbarungen der Natur

Er sei damals ein fragiler Mensch gewesen, erzählte Jaccottet 2011, zehn Jahre vor seinem Tod, in einem Gespräch. Umgeben von selbstgewissen, starken Dichtern wie Francis Ponge oder André du Bouchet, habe er, der unsicher und darum leicht beeinflussbar gewesen sei, auf Abstand gehen müssen, um sich nicht zu verlieren. Er meinte es ganz wörtlich: Er musste weg von Paris, weg von den Dichtern: 1953 verliess er mit seiner Frau, der Malerin Anne-Marie Jaccottet, die Stadt; in Grignan, einem Städtchen etwa fünfzig Kilometer nördlich von Avignon, hatten sie ein Haus gefunden.

Im Rückblick, so Jaccottet, sei dieser Wegzug aus Paris eine der zentralen Erfahrungen seines Lebens gewesen. Er, der keineswegs in besonderer Weise an der Natur und der Landschaft interessiert gewesen sei, habe hier auf den langen Wegen über das Land eine Offenbarung erlebt, die für seine Dichtung entscheidend gewesen sei. Fern davon, die Schönheit der Natur besingen zu wollen, wurde er zu einem Dichter, der die Welt in den Epiphanien der Schöpfung zu entdecken, zu beschreiben und zu deuten lernte.

So fand sich Philippe Jaccottet abseits von der französischen Kapitale auf einem Aussenposten wieder. Er wurde zum Wanderer, zum «promeneur solitaire», der sich wie Rousseau von seinen Gängen durch die Natur bis in seinen späten Betrachtungen zu hinreissenden Gedanken anregen liess: «Könnte man am Ende vielleicht sogar sagen: Wenn man sieht, vorausgesetzt, dass man sieht, dann sieht man weiter, weiter als nur das Sichtbare (trotz allem)? Und zwar durch die zierliche Bresche der Blumen.»

«Diener des Sichtbaren» hat Philippe Jaccottet den befreundeten Maler Italo De Grandi genannt, und als solchen hatte ihn wiederum Peter Handke bezeichnet. Das Sichtbare war lediglich das Medium, durch das die Natur zu ihm sprach, Jaccottet nahm es als Manifestation des Unsichtbaren. «Die zierliche Bresche der Blumen» öffnet dem poetischen Seher eine Blickachse hinter die Dinge, vielleicht auch ins Innere der Dinge, sie erschliesst ihm Dimensionen des Daseins, die dem dichterischen Wort zugänglicher sind als den Instrumenten des Botanikers.

Die Sprache schärft die Aufmerksamkeit, und der Blick in die Natur erfordert vom Dichter eine emphatische Genauigkeit der Beschreibung, die im Sichtbaren das Verborgene aufblitzen lässt. Über die Jahre entstand auf solchen Wegen im Abseits ein Werk, dessen Ruf alsbald wieder bis nach Paris reichte. Und nun geschah, was wiederum entscheidend für die weitere Entwicklung von Philippe Jaccottets dichterischem Werk sein sollte: Grignan lockte befreundete Dichter und Maler herbei.

Im Gespräch mit Freunden

Dass Freunde in die Gegend kamen, sei es dauerhaft oder als wiederkehrende Nachbarn, beeinträchtigte keineswegs Philippe Jaccottets mönchisches Dasein, vielmehr fand es darin seine Erfüllung. Denn nun erweiterte sich das Netz der Freundschaft zum künstlerischen Gespräch. Zumal mit den Malern ergaben sich fruchtbare Begegnungen, da Jaccottet in ihnen Seelenverwandte erkannte. Wenn sie nach der Natur malten, dann beschrieben sie die Leinwand mit dem Pinsel wie er das Papier mit dem Stift.

Über die Jahre hat Philippe Jaccottet das Schaffen seiner Malerfreunde mit kurzen, geradezu intimen Essays begleitet. In seinen Porträts verfährt er wie in seinen Gedichten: Indem er das Sichtbare eines Lebens und Schaffens mit poetischer Genauigkeit beschreibt, schaut er ins Innere eines Werks und Daseins.

Was er dort findet, betrifft sein Eigenstes; schreibt er über die Maler, schreibt er ahnungsvoll über sich selbst. Seinen Text zu Giorgio Morandi beschliesst er mit dem Satz: «Um diese Kunst zu verstehen, muss man sich bei ihrem Maler eine Aufmerksamkeit vorstellen, eine Beharrlichkeit, die gewohnte Möglichkeiten weit überschreiten.» Und wenn er über die Gefährdungen der Kunst seiner Freunde nachdenkt, dann spricht er über eigene Zweifel: Das Festhalten an der Stille, der Innerlichkeit, es könnte «womöglich bald keinen Sinn mehr haben», heisst es in einem Text über den Maler Gérard de Palézieux.

Kurz vor seinem Tod 2021 hat Philippe Jaccottet diese Aufsätze zu einem Band zusammengefasst, der nun in der kenntnisreichen Übersetzung von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz auf Deutsch erschienen ist. Es ist ein Vermächtnis, das im Blick auf die Malerfreunde noch einmal in gedeckten Farben und asketischen Formen hervortreten lässt, was sie alle verbindet: die Stille.

Philippe Jaccottet: Bonjour, Monsieur Courbet. Künstler, Freunde, kunterbunt. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz. Wallstein-Verlag, Göttingen 2025. 200 S., Fr. 48.90. – Im Musée Jenisch in Vevey ist derzeit eine Ausstellung zu sehen mit Werken von Philippe Jaccottets Künstlerfreunden, bis 17. August.

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