Samstag, September 28

Drei Blöcke werden den Ausgang der Parlamentswahl in Frankreich entscheiden. Eine Mehrheit ist nicht nur für die Nationalisten von Le Pen möglich. Sicher scheint nur: Das Land hat unruhige Zeiten vor sich.

Emmanuel Macron beruft sich gern auf Prinzipien. Anfang Juni hat er allerdings eines über Bord geworfen, das er selbst noch kurz zuvor in Erinnerung gerufen hatte: nämlich dass eine europäische Wahl auch lediglich europäische Konsequenzen hat. Nach dem überaus deutlichen Sieg des nationalistischen Rassemblement national (RN) bei der Europawahl hat Macron allerdings französische Konsequenzen gezogen. Noch bevor alle Stimmen ausgezählt waren, hat er die Assemblée nationale aufgelöst und Neuwahlen angekündigt.

Mit dieser Entscheidung hat Macron alle überrumpelt. Am Folgetag wurde das Land von einer fiebrigen Nervosität erfasst. Es blieben weniger als drei Wochen bis zum ersten Wahlgang.

Nach knapp vier Tagen hatten sich drei grosse Blöcke herausgebildet: Links der Nouveau Front populaire, welcher die vier massgeblichen linken Parteien vereint. In der Mitte Emmanuel Macrons Renaissance, Sympathisanten und die heimatlosen Konservativen. Die Partei Les Républicains hat sich ob der Frage gespalten, ob eine Koalition mit dem RN möglich beziehungsweise opportun sei. Eine Gruppe von rund 60 Abgeordneten, unter ihnen der Parteichef Éric Ciotti, macht nun mit den Nationalisten gemeinsam Wahlkampf. Sie und das Rassemblement national konstituieren den dritten Block rechts aussen.

Diese drei Formationen werden bei der Wahl vom 30. Juni und 7. Juli um die meisten Stimmen beziehungsweise um eine Mehrheit in der 577 Sitze umfassenden Kammer kämpfen – und darauf hoffen, den Regierungschef stellen zu dürfen. In Umfragen führt das Rassemblement national vor dem Nouveau Front populaire, Renaissance liegt mit deutlichem Abstand auf dem dritten Platz. Doch aus diesen Werten lassen sich nur bedingt Prognosen über den Wahlausgang ableiten.

Denn die grosse Kammer des französischen Parlaments wird über zwei Runden gewählt – und Allianzen sind wichtig. In einer ersten Runde scheiden alle Kandidaten aus, für die weniger als 12,5 Prozent der eingeschriebenen Wähler gestimmt haben. In der Stichwahl kommt es auf mögliche Koalitionen an. Bisher war es ein ungeschriebenes Gesetz, dass niemand einen RN-Kandidaten zur Wahl empfiehlt.

Die Linke und die Mitte werden diesem Prinzip wohl treu bleiben; bei den Konservativen hängt das nach ihrer Spaltung vom Kandidaten ab. Die Frage ist allerdings: Wie oft werden Linke und die Mitte sich gegenseitig unterstützen, um einen RN-Kandidaten zu verhindern? Realistisch sind drei Szenarien.

1. Das Rassemblement national gewinnt eine Mehrheit

Es wäre der zweite historische Erfolg innert weniger Wochen. Auch wenn sie ihre Wählerbasis in den vergangenen Jahren stetig ausbauen konnte, so hat die Le-Pen-Partei noch nie nationale Wahlen gewonnen. Nun sagen ihr Umfragen einen grossen Erfolg voraus.

Es ist davon auszugehen, dass es viele der insgesamt 488 RN-Kandidaten in den zweiten Wahlgang schaffen. Doch dort stellt sich die Frage, wer ihnen in einer Stichwahl zur entscheidenden Mehrheit der Stimmen verhilft. Bei der letzten Parlamentswahl war der Effekt der sogenannten Brandmauer deutlich sichtbar: Die Zustimmung für das Rassemblement national war im zweiten Wahlgang tiefer. Eine deutliche Zahl der Wähler hat ihre Stimme nach dem Motto: «alles, nur nicht Le Pen» vergeben.

Dieser Effekt wird auch diesmal wirken; aber vermutlich weniger stark. Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens spannt ein Teil der Républicains offiziell mit dem RN zusammen und macht damit die Wahl der Nationalisten bei einem Teil der Konservativen salonfähig. Zweitens ist schwierig abzuschätzen, wie viele sogenannte Proteststimmen das RN gewinnen kann. Vor allem im Duell mit einem Kandidaten der Mitte dürfte dieses Potenzial gross sein: Der Hass auf Macron und seine Mitstreiter ist in weiten Teilen der Bevölkerung seit der letzten Wahl nur gewachsen.

Eine Mehrheit für das RN ist also möglich, aber nicht ohne Hürden. Der Reflex «alles, nur nicht Le Pen» besteht bei vielen Französinnen und Franzosen immer noch.

2. Die linke Allianz geht als Siegerin hervor

Der Nouveau Front populaire ist eine Neuauflage der Nupes, des Wahlbündnisses der letzten Parlamentswahl, bei der sie das zweitbeste Ergebnis erzielte. In der parlamentarischen Arbeit der letzten zwei Jahre war die Nupes harten Zerreissproben ausgesetzt. Besonders die zur Mitte neigenden Sozialisten und die am extremen Rand politisierende La France insoumise gerieten sich immer wieder in die Haare. Heute spricht man offen darüber, dass der erneute Zusammenschluss eine «Vernunfthochzeit» sei, um den Sieg des RN zu verhindern.

Die Mobilisierungskraft des linken Lagers ist in Frankreich besonders in politischen Krisen beträchtlich. Die neue Allianz dürfte zudem davon profitieren, dass die Politik von Emmanuel Macrons Regierung – etwa die Verschärfung des Immigrationsrechts oder die Erhöhung des Rentenalters – in den letzten zwei Jahren viele nach links tendierende Wähler verprellt hat. Diese zwei Faktoren erklären, warum die Linksallianz in Umfragen dem RN auf den Fersen ist und auch als einzige Formation reelle Chancen hat, das RN im zweiten Wahlgang zu übertrumpfen.

Ob ein Sieg möglich ist, hängt aber davon ab, ob die Macron-Wähler bei einer Stichwahl zwischen einem RN-Kandidaten und einem Linken eindeutig für Letzteren stimmen würden – in der Tendenz lautet die Antwort Ja, der Abwehrreflex gegenüber den Nationalisten ist im Milieu der Macron-Wähler weit verbreitet.

3. Es gibt keine eindeutige Mehrheit

Emmanuel Macron hat in den letzten Tagen besonders gegen die Linke geschossen und wird nicht müde, die Widersprüche in der eilends gezimmerten Allianz aufzuzeigen – wohl in der Hoffnung, dass so möglichst viele Kandidaten der Mitteparteien in den zweiten Wahlgang kommen. Das Kalkül: Die Macronisten und ihre Verbündeten wären einmal mehr die Kandidaten der Vernunft und damit die einzige Lösung für all jene, die auf keinen Fall der extremen Rechten zu einer Mehrheit verhelfen wollen. So lief es bei der vergangenen Wahl 2022.

Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass Renaissance so noch einmal zu einer Mehrheit kommt. Erstens ist das Ansehen des Präsidenten und damit auch seiner Partei in den vergangenen zwei Jahren drastisch gesunken. Das liegt unter anderem an der Art, wie sie im Parlament agiert hat. Weil sie nur über eine einfache, aber keine absolute Mehrheit verfügte, hat die Regierung auch wichtige Gesetze ohne Abstimmung durch das Parlament gebracht. Das hat nicht nur die Opposition, sondern auch viele Bürger nachhaltig verärgert. Zweitens könnten viele linke Wähler durch Macrons Attacken auf die Linke derart verärgert sein, dass sie seinen Kandidaten trotz allem ihre Stimme versagen. Wahrscheinlicher als eine neuerliche Mehrheit der Mitteparteien ist deshalb ein Ergebnis ohne klare Mehrheit.

Aussicht auf eine Premiere

Es ist derzeit nicht absehbar, ob die Wahl eine klare Mehrheit hervorbringen wird. Sehr wahrscheinlich ist dagegen, dass Frankreich nach dem 7. Juli in einer aussergewöhnlichen Konstellation regiert werden wird.

Bei einer linken oder rechten Mehrheit müsste Macron mit einem Regierungschef aus einem anderen politischen Lager zusammenarbeiten. Eine sogenannte Cohabitation gab es in der Fünften Republik erst drei Mal – und sie war selten fruchtbar. Vor allem im Ausland haben bisweilen diametral unterschiedliche Positionen von Regierungschef und Präsident für Verwirrung gesorgt.

Kommt keine klare Mehrheit zustande, ginge die Suche nach Koalitionen los – ein Vorgang, mit dem Frankreichs Politiker fremdeln. Experten bringen daher jetzt schon die Möglichkeit einer Technokratenregierung ins Spiel, bei der ein Regierungschef und die einzelnen Minister weniger wegen ihrer Parteizugehörigkeit, sondern zunächst wegen ihrer fachlichen Eignung ausgesucht werden. Auch das wäre für Frankreich Neuland.

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