Freitag, Dezember 27

Vor hundert Jahren starb der Schriftsteller. Er war ein Virtuose distanzierter Weltaneignung, der der Nachwelt paradoxerweise immer noch als verquälter Stubenhocker gilt.

Als sich Franz Kafka am 31. Juli 1917 Gedanken über die Freiheit macht, bekommen seine Ideen Flügel. «In einem Eisenbahnzug sitzen», schreibt er, «die fortreissende Kraft des Zuges fühlen, Reisender werden, die Mütze aus dem Koffer ziehn, den Mitreisenden freier, herzlicher, dringender begegnen, dem Ziel ohne Verdienst entgegengetragen werden».

Schön und kühn zugleich ist Kafkas Vorstellung, der solcherart glücklich durch die Welt gleitende Mensch wäre sofort auch «ein Liebling der Frauen». Alles fällt in der Imagination des Schriftstellers in Eins: die Fahrt und das Ich, das plötzlich «ein im Blitzzug allein reisendes Kind» wird, während sich die schützende Hülle des Waggons um seine Zartheit aufbaut, «wie aus der Hand eines Taschenspielers.»

Wenn es bei Kafka um das Ich geht, ist immer ein Trick dabei. Als wäre Zauberei nötig, damit dieses Ich ganz in der Welt sein kann. Staunend und schreibend schaut der Autor den Menschen zu, denen es gelingt, sich ganz umstandslos in die Welt einzufügen. Die provokante Lebenstüchtigkeit des eigenen Vaters, des Geschäftsmanns, spaltet die Wohnung der Familie in Kontinente auf. Wenn die laute Stimme des Vaters vor Franz Kafkas Zimmertür zu hören ist, dann ist das ein doppeltes Draussen.

Der Wohnungsflur mit dem dröhnenden Patriarchen ist ein idiosynkratisch empfundenes Ausland, eine Anderswelt, die der Schriftsteller in seinem «Brief an den Vater» zum finsteren, grausam patriarchalen Albtraum stilisiert. Damit stilisiert sich auch Kafka selbst. Er legt das Terrain fest, als dessen Bewohner ihn die Nachwelt sehen wird.

Virtuose Weltaneignung

Die Kafka-Lektüren, die den Autor als authentischen Märtyrer der Unterdrückung sehen wollen und sein Werk als grosse Allegorie eigener Erfahrungen, verkennen einen Dissoziationsprozess. Kafka selbst war es, der mit der Hand eines Taschenspielers schrieb. Er kultivierte seine Ich-Unmöglichkeit, einen Blick, der von aussen auf sich selbst fiel. Weil die Scham ihn zwang, sich mit den Augen der anderen zu sehen, wusste er um die Macht, die die Menschen übereinander haben.

Er konnte über die Macht schreiben wie kein anderer und machte für sich selbst ein Spiel daraus. Wenn aus der monumentalen und fast romanhaften Biografie Reiner Stachs ein psychologisches Bild des Schriftstellers entsteht, dann das des lachenden Franz Kafka. Eines Virtuosen distanzierter Weltaneignung, der der Nachwelt paradoxerweise immer noch als verquälter Stubenhocker gilt.

Im gleichen Juli 1917, in dem sich Kafka für ein paar Zeilen als unbeschwert Reisender erfindet, wird in einem Budapester Fotostudio das einzige Bild aufgenommen, das den Schriftsteller mit Felice Bauer zeigt. Gerade hat man sich zum zweiten Mal verlobt. Man sieht Felice sitzend, ihre Handtasche auf den Knien. Sie scheint sich zwei, drei Winkelgrade zu weit nach rechts zu neigen, als dass man dieses Bild für einen Ausdruck grösster Innigkeit halten könnte.

Felice neigt sich weg vom seitlich hinter ihr stehenden Kafka, der seine Hand ungelenk auf das Podest stellt, auf dem die Freundin sitzt. Die bürgerlichen Konventionen vor hundert Jahren bewahren das Paar beim Fotografen vor allzu offenkundiger Intimität. Sich im Auf und Ab der gemeinsamen Beziehung hinter bürgerlichen Konventionen verstecken zu können, war für Franz Kafka allerdings auch lebensrettend.

Haus in der Zlata Ulicka, wo Kafka 1917 wohnte (Bild links). Kafka mit Max Brods Bruder Otto (hinten links) im Trentino.

Die Übereinkünfte der Sittlichkeit sind Schutzschirme vor der erschütternden Realität der Entgrenzung. Entgrenzung war für Franz Kafka vielleicht ein gelindes privates Grauen, aber die Nicht-Entgrenzung, die Nicht-Vermengung des Ichs mit der Welt bleibt auch sein ästhetisches Prinzip.

Körperliche Akte haben in Kafkas Werk eine oft groteske Komik, und wenn der Schriftsteller mit seinem Freund Max Brod auf Reisen ist und Bordelle besucht, dann scheint er sich eher für die besondere Grammatik dieser Orte zu interessieren als für ihre Angebote. In Prag, Paris und Mailand lenken Kafka und Brod ihre Schritte immer wieder in Etablissements dieser Art.

1911 sind beide in Paris. In nüchterner Äquidistanz zu Mobiliar und Menschen beschreibt Kafka heruntergelassene Jalousien und Prostituierte. Es gelingt ihm kaum, die Frauen einzeln zu sehen. «Man müsste die Augen aufreissen und dazu gehört Übung», notiert Kafka. Der Hut bleibt beim Akt offenbar auf dem Kopf: «Angst davor nicht zu vergessen den Hut nicht abzunehmen. Man muss sich die Hand von der Krempe reissen.» Der Schriftsteller im Bordell, ein tragikomischer Akt.

Finsterer Kern des Absurden

Von einer Rückkoppelung zwischen der Gegenwart und den versunkenen Welten Kafkas hat kürzlich sein Biograf Reiner Stach berichtet. Auf Tiktok ist Kafka plötzlich weltweit ein Star. Aus Brasiliens Achtsamkeitscommunity wollte man wissen, ob man den Herrn aus Prag bei all dem Hype guten Gewissens zitieren könne, schliesslich habe er selbst Bordelle nicht verachtet und sich für Pornografie interessiert.

Wann aber kennt man ihn jemals ganz, den Kafka Franz? Seine wahren Passionen? Am Ostersonntag des Jahres 1913 gibt es in Berlin einen Augenblick der Wahrheit. Der Autor trifft Felice Bauer zum ersten Mal allein in Berlin. Man spaziert durch den Grunewald. Kafka wird sich später an den Geruch ihres Halses erinnern. Wäre das eine Essenz des Gemeinsamen, oder wird das Gemeinsame erst im Zustand der Trennung essenziell? Ein paar Tage später erklärt Franz Kafka Felice Bauer in einem Brief, er habe «die Seligkeit einer Verbindung» am Telefon stärker empfunden als in ihrer Gegenwart.

Franz Kafka war vieles. Ein Amateur der Liebe, ein Schriftsteller, Versicherungsangestellter und sogar Chef einer Asbest-Firma. Er war ein Schwimmer, ein Kinogeher und ein Reisender. Dass ihm die Mechanik des Lebens bei allem, was er tat, in grosser Klarheit vor Augen stand, war Fluch und Segen zugleich. Kafkas Sätze konnten eine Mechanik exakt nachbilden, für deren Hebelwerk die Frage nach dem Warum nicht von Bedeutung ist.

Die Mächte in Kafkas Werk sind Maschinen. Sie ritzen dem Delinquenten in der Strafkolonie das Urteil in die Haut. Die Bürokratie tut, was sie tun muss. Sie arbeitet nach Plänen, die nur dem absurd erscheint, der glaubt, dass es ausserhalb des Absurden noch eine Welt gibt. Auch das Ich ist keine Rettung vor dem Absurden, es ist sein finsterer Kern. Wie komisch und verwickelt das in Wahrheit alles ist, kann man bei Franz Kafka nachlesen.

Akrobatische Aufgabe

1910 schreibt er in einer Tagesnotiz über die Kunst japanischer Gaukler, die mit ihren Füssen eine Leiter balancieren, auf der ein Kollege hochsteigt. Und dann wendet sich Kafka seinem schreibenden Ich zu: «Aber jeden Tag soll zumindest eine Zeile gegen mich gerichtet werden, wie man die Fernrohre jetzt gegen den Kometen richtet. Und wenn ich dann einmal vor jenem Satze erscheinen würde, hergelockt von jenem Satze, so wie ich zum Beispiel letzte Weihnachten gewesen bin und wo ich so weit war, dass ich mich nur noch gerade fassen konnte, und wo ich wirklich auf der letzten Stufe meiner Leiter schien, die aber ruhig auf dem Boden stand und an der Wand. Aber was für ein Boden, was für eine Wand! Und doch fiel jene Leiter nicht, so drückten sie meine Füsse an den Boden, so hoben sie meine Füsse an die Wand.»

Mit einem Ich umgehen zu müssen, ist für Franz Kafka eine akrobatische Aufgabe. Ein Akt, bei dem die Schwerkraft der Verhältnisse permanent wechselt und sich vermeintliche optische Fixpunkte als Illusion erweisen. Hier gibt es kein Oben und kein Unten. Weil Kafkas Werke aus der eigenen Ich-Unmöglichkeit entstanden sind, bleiben sie Parabeln für die Unmöglichkeit der Welt als ganze und sind deshalb brauchbar geblieben für ganze Heerscharen weltanschaulich geleiteter Exegeten. Von den Existenzialisten über die Freudianer bis zu den Ideologiekritikern der Macht.

Wenn selbst Tiktok so etwas wie eine Weltanschauung ist, dann hat Franz Kafka auch hier seinen Platz. Im Blitzzug reist der Schriftsteller noch immer durch die Zeit. Dass er den Mitreisenden heute «freier, herzlicher, dringender» denn je erscheint, spricht ganz und gar für ihn.

Bücher zu Kafkas 100. Todestag

Der Process. Kommentierte Leseausgabe. Hrsg. mit einem Nachwort von Reiner Stach. Wallstein-Verlag, Göttingen 2024. 397 S., Fr. 48.90.

Brief an den Vater. Faksimile der Handschrift im Originalformat und Transkription. Kampa-Verlag, Zürich. 240 S., Fr. 57.90.

Briefe 1912–1924. Hrsg. Hans-Gerd Koch. S.-Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2024. 1056 S., Fr. 177.– (erscheint als Abschluss der Kritischen Ausgabe im November).

Andreas Kilcher: Kafkas Werkstatt. Der Schriftsteller bei der Arbeit. Verlag C. H. Beck, München 2024. 302 S., Fr. 41.90.

Rüdiger Safranski: Kafka. Um sein Leben schreiben. Hanser-Verlag, München 2024. 256 S., Fr. 36.90.

Hartmut Binder: Franz Kafka. Ein Leben in Bildern. Vitalis-Verlag, Prag 2024. 1088 S., Fr. 130.–.

Marcus Steinweg, Sonja Dierks: Kafka. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2024. 285 S., Fr. 28.90.

Kafka gelesen. Eine Anthologie. Hrsg. von Sebastian Guggolz. S.-Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2024. 272 S., Fr. 33.90.

Kafkas Kosmos. Eine fotografische Spurensuche von Helmut Schlaiss. Manesse-Verlag, München 2023. 152 S., Fr. 68.90.

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