Sonntag, November 24

Wer übergewichtig ist, kann ja abnehmen: Dieser Grundsatz gilt nach einem wegweisenden Urteil des Bundesgerichtes nicht mehr. Personen mit schwerer Adipositas dürfen nun auf eine Rente pochen.

Eine 54-jährige Frau aus dem Kanton Aargau hat vor dem Bundesgericht einen Paradigmenwechsel erstritten, wie am Donnerstag bekanntwurde. Schwere Fettleibigkeit gilt zwar grundsätzlich weiterhin als behandelbar – aber dieser Umstand führt nicht mehr automatisch dazu, dass eine IV-Stelle ein Rentengesuch ablehnen darf.

Die Frau ist rund 150 Kilogramm schwer und hat einen Body-Mass-Index (BMI) von 58. Zuletzt arbeitete sie als kaufmännische Angestellte. 2012 meldete sie sich wegen Kniebeschwerden bei der Invalidenversicherung und beantragte eine Rente. Mit Erfolg: Die IV-Stelle des Kantons Basel-Stadt, wo sie damals wohnte, sprach ihr befristet eine ganze Invalidenrente zu. Und bestätigte den Entscheid 2016.

Doch nach einem Umzug in den Aargau begannen die Probleme für die Frau. Konfrontiert mit einem Gesuch um Verlängerung der Rente aufgrund der Adipositas, holte die Aargauer IV-Stelle zwei Gutachten ein. Gestützt auf diese, gewährte sie der Frau zwar 2018 eine Hilflosenentschädigung mittleren Grades. Das Rentenbegehren lehnte sie hingegen im Mai 2023 ab. Begründung: Bei der Adipositas handle es sich nicht um ein «invalidisierendes Leiden».

Behandelbare Krankheiten

Die Frau zog den Fall weiter und unterlag im letzten Dezember vor dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau. Anders sehen es nun die Bundesrichter. Sie korrigieren die bisherige Rechtsprechung. Laut dieser bewirkt eine Adipositas selbst grundsätzlich keine Invalidität, die zu einer Rentenleistung berechtigt. Beziehungsweise nur dann, wenn das starke Übergewicht im Körper oder in der Psyche Gesundheitsschäden verursacht oder die Folge solcher Gebrechen ist.

Diese Rechtsprechung ging letztlich davon aus, dass ein starkes Übergewicht willentlich überwindbar sei. Oder salopper formuliert: Wer dick ist, ist selbst daran schuld – und kann seine Situation selbst verbessern, indem er abnimmt. Diese Praxis entwickelte sich auf der Basis von Entscheiden zu Suchterkrankungen in den achtziger Jahren: Auch diese galten damals als heilbar, ebenso wie Depressionen.

Doch diese Paradigmen warf das Bundesgericht schon vor einigen Jahren über Bord. Mit etwas Verzögerung erfolgt diese Neueinschätzung nun auch in Bezug auf das schwere Übergewicht. Es sei kein Grund ersichtlich, die bisherige Sonderrechtsprechung zu Adipositas aufrechtzuerhalten, schreibt das Bundesgericht in einer Medienmitteilung. Dabei sei mitzuberücksichtigen, dass es sich bei der Adipositas um eine chronische, komplexe körperliche Krankheit handle.

Adipöse müssen sich bemühen

In Bezug auf den Fall der Frau aus dem Aargau erklärt das Bundesgericht: Es stehe fest, dass sie es nicht in der Hand habe, per sofort eine 100-prozentige Arbeitsfähigkeit herzustellen. Deshalb müsse über ihr Rentengesuch neu entschieden werden. Und auch sonst werden die IV-Stellen künftig im Einzelfall schauen müssen, wie sich die Krankheit in Bezug auf die Leistung limitierend auswirkt.

Das bedeutet allerdings nicht, dass sich stark übergewichtige Personen nicht mehr bemühen müssten abzunehmen. Wie das Bundesgericht betont, gilt selbstverständlich auch bei einer Adipositas die Pflicht zur Schadenminderung. «Ein Anspruch auf eine IV-Rente setzt in diesem Sinne voraus, dass die betroffene Person zumutbare diätische oder medikamentöse Therapien, Verhaltenstherapien oder Bewegungsprogramme unternimmt.»

Welche Auswirkungen das Bundesgerichtsurteil auf die Zahl der Renten und die Finanzen der IV haben wird, ist schwer abzuschätzen. Laut dem Bundesamt für Statistik sind in der Schweiz 13 Prozent der Männer und 11 Prozent der Frauen adipös. Bei beiden Geschlechtern hat sich dieser Anteil in den letzten dreissig Jahren mehr als verdoppelt.

Nur ein beschränkter Personenkreis

Doch es ist nicht zu erwarten, dass all diese Personen nun eine IV-Rente beantragen (und erhalten). Als adipös gilt man ab einem BMI von 30. Ein 1,80 Meter grosser Mann erreicht diesen Wert ab einem Gewicht von rund 97 Kilogramm – ein solches Übergewicht dürfte in den wenigsten Fällen zu einer Arbeitsunfähigkeit führen.

Die Frau, die das Bundesgerichtsurteil erkämpft hat, liegt so weit über dem Adipositas-Schwellenwert, wie das wohl nur auf wenige Personen in der Schweiz zutrifft. Selbst wenn sie 70 Kilogramm abnähme, befände sich ihr BMI immer noch im Adipositas-Bereich.

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