Sonntag, April 27

Frauen, die früher in die Wechseljahre kommen, erkranken später häufiger an einer Demenz. Eine Hormonersatztherapie soll das Risiko senken. Doch manche Experten halten solche Ratschläge für voreilig.

Im Vergleich zu Männern erkranken Frauen nahezu doppelt so häufig an Alzheimer. Als dieser Unterschied in den 1990er Jahren entdeckt wurde, glaubte man schnell, den Grund dafür zu kennen: Das Alter ist der grösste Risikofaktor für Alzheimer. Und weil Frauen länger leben als Männer, erkranken auch mehr Frauen.

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Inzwischen weiss man: Ganz so einfach ist es nicht. Denn selbst wenn man die höhere Lebenserwartung berücksichtigt, erkranken Frauen immer noch häufiger an Alzheimer. Was also könnte der Grund dafür sein? Das versuchen Wissenschafter seitdem herauszufinden.

Ihr Augenmerk richtete sich zunächst auf die biologischen Unterschiede zwischen Frau und Mann, insbesondere auf die Geschlechtshormone. Östrogen ist nicht nur für die weibliche Fortpflanzung unentbehrlich, sondern erfüllt auch im Gehirn besondere Aufgaben.

Es schützt die Nervenzellen, festigt ihre Verbindungen und wirkt zudem entzündungshemmend – alles Dinge, die gerade für das alternde Gehirn wichtig sind. Der steile Abfall des Östrogens in den Wechseljahren könnte also für das erhöhte Alzheimerrisiko von Frauen verantwortlich sein, lautete die Schlussfolgerung.

Nach einer Entfernung der Eierstöcke steigt das Demenzrisiko

Für diese These gibt es überzeugende Belege. Frauen mit einer kurzen reproduktiven Phase, also einer späten ersten Menstruation oder frühen Wechseljahren, haben ein höheres Demenzrisiko als Frauen, die über einen längeren Zeitraum Östrogene bilden.

Eine Studie zeigte, dass eine reproduktive Phase von weniger als 34 Jahren mit einem um 20 Prozent erhöhten Demenzrisiko verbunden ist. Aber auch Frauen, denen zum Beispiel wegen einer Krebserkrankung die Eierstöcke entfernt werden und die dadurch vorzeitig in die Wechseljahre kommen, haben ein erhöhtes Demenzrisiko.

«Die Hinweise, dass der fallende Östrogenspiegel und das Alzheimerrisiko irgendwie zusammenhängen, sind überwältigend», sagt Jens Stepan, Oberarzt an der Klinik für Reproduktions-Endokrinologie am Universitätsspital Zürich. «Die Veränderungen im Gehirn gehen mit dem Östrogenabfall einher, egal ob die Wechseljahre frühzeitig oder im durchschnittlichen Alter um die 50 beginnen.»

Ohne Östrogen fehlt den Nervenzellen der Zucker

So bilden sich in dieser Phase beispielsweise vermehrt die für Alzheimer typischen Eiweissablagerungen, sogenannte Plaques. Das ist bei Männern in der Regel erst später der Fall. Östrogen ist zudem essenziell für die Versorgung der Nervenzellen mit dem Energielieferanten Zucker. Fällt das Östrogen ab, sinkt auch das Energieangebot im Gehirn.

Könnte man diesen Vorgängen durch die Gabe von Medikamenten entgegenwirken? Die nach der Menopause fehlenden Geschlechtshormone Östrogen und Gestagen werden von vielen Frauen auch zur Linderung anderer Symptome in den Wechseljahren eingenommen. «Es gibt sehr viele Hinweise darauf, dass eine solche Hormonersatztherapie bei der Alzheimerdemenz einen Nutzen haben könnte», sagt Jens Stepan, «aber in der Praxis hat sich das noch nicht bestätigt.»

Die Forschung hat in den vergangenen Jahrzehnten widersprüchliche Resultate hervorgebracht: Einige Studien konnten einen Effekt nachweisen, andere zeigten, dass die Ersatzhormone keine oder sogar eine schädliche Wirkung haben.

Für diese Unstimmigkeiten gibt es vermutlich mehrere Gründe. Zum einen sei es äusserst schwierig, qualitativ hochwertige Studien durchzuführen, so der Gynäkologe und Neurowissenschafter, also beispielsweise eine genügend grosse Zahl von Frauen mit vergleichbarer Ausgangssituation über einen ausreichend langen Zeitraum zu beobachten.

Schützen die neuen Hormonpräparate besser?

Zum anderen wurden in den bisherigen Studien meist Präparate verwendet, die heute nur noch selten zur Behandlung von Menopause-Beschwerden eingesetzt werden. Damit sind die Ergebnisse nur eingeschränkt auf die heutigen Verhältnisse übertragbar.

Früher war es in den Untersuchungen zudem die Regel, die Hormone den Frauen erst nach der letzten Regelblutung zu verschreiben. Inzwischen gilt aber: je früher, desto besser. Denn sind die Nervenzellen erst einmal geschädigt, könnten die Östrogene sie sogar noch weiter schwächen. Setzt man dagegen früh an, kann das vorzeitige Altern der Neuronen möglicherweise gebremst werden.

Doch all das sind bis jetzt nur Vermutungen, belastbare Daten fehlen. «Laut Leitlinien ist eine Hormonersatztherapie heute nur bei Wechseljahrbeschwerden indiziert», erklärt Stepan. «Kein seriöser Arzt würde Hormone zur Vorbeugung einer Demenz verschreiben.»

Noch ist das Rätsel nicht gelöst

«Wir haben das Rätsel noch nicht gelöst», sagt auch die Neurowissenschafterin und Genderexpertin Maria Teresa Ferretti vom Medizintechnikunternehmen Syntropic Medical in Wien. Östrogen spiele mit Sicherheit eine wichtige Rolle, aber es gebe noch andere Erklärungen für das Phänomen, dass mehr Frauen an Alzheimer erkrankten.

«Männer, die 80 oder 90 Jahre alt werden, sind im Schnitt gesünder als gleichaltrige Frauen», sagt Ferretti. Der Grund: Viele angeschlagene Männer sterben vorzeitig an Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Diejenigen, die bis ins hohe Alter überlebten, hätten ein günstigeres Herz-Kreislauf-Profil, das sie gleichzeitig besser vor einer Alzheimerdemenz schütze.

«Frauen leiden ebenfalls an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, aber sie sterben seltener daran. Dieser Überlebensvorteil dürfte neben den Hormonen der wichtigste Faktor für das erhöhte Alzheimerrisiko von Frauen sein», sagt Ferretti.

Frauen bauen schneller ab – so scheint es zumindest

Die grundlegenden Krankheitsmechanismen seien bei Frauen und Männern zwar ähnlich, sagt Ferretti, Unterschiede gebe es aber im zeitlichen Verlauf. «Bei Frauen schreitet die Krankheit zum Beispiel schneller voran als bei Männern.»

Zumindest scheint es so. Denn womöglich wird dieses schnellere Voranschreiten nur durch den Umstand vorgetäuscht, dass die Krankheit bei Frauen im Schnitt später entdeckt wird. Der Grund: Sie können die ersten Ausfälle im verbalen Gedächtnis, die die Krankheit kennzeichnen, besser kompensieren. Viele Diagnose-Tests fahnden aber im Besonderen nach solchen Defiziten.

«Zum Zeitpunkt der Diagnose ist die Krankheit bei Frauen dann oft schon weiter fortgeschritten, was zur Folge hat, dass sie kognitiv schneller abbauen», so Maria Teresa Ferretti.

Auch Herkunft und Generation beeinflussen das Demenzrisiko

«Wenn wir die Gründe für das unterschiedliche Demenzrisiko von Frauen und Männern verstehen wollen, müssen wir sehr genau hinschauen», sagt Richard Merrick von der University of Cambridge in Grossbritannien. «Wie man einzelne Befunde gewichtet, hängt nämlich stark davon ab, mit welcher Brille man die Dinge betrachtet.»

Merrick hat dabei unter anderem die Geschichte des Forschungsfeldes im Sinn: Als die ersten Studien auf einen Unterschied zwischen den Geschlechtern hinwiesen, fragte man sich sofort, was die biologischen, die körperlichen Unterschiede sein könnten. Erst mit der Zeit begannen Forscher, auch soziale und kulturelle Faktoren ins Visier zu nehmen.

Dabei entdeckten sie Überraschendes. So variiert das Alzheimerrisiko nicht nur von Land zu Land, sondern auch von Generation zu Generation – ein starkes Indiz dafür, dass veränderbare Risikofaktoren eine Rolle spielen. Inzwischen haben Forscher vierzehn solcher modifizierbaren Risikofaktoren identifiziert, die fast die Hälfte aller Demenzfälle erklären können.

In 20 Jahren um 20 Prozent gesunken

Zu diesen Risikofaktoren zählen Dinge wie Bluthochdruck, Übergewicht, Schwerhörigkeit, soziale Isolation oder ein niedriges Bildungsniveau. In den letzten Jahrzehnten haben verschiedene Massnahmen, die hier ansetzen, wie Fortschritte bei der Bluthochdruck-Therapie oder ein verbessertes Bildungsangebot, zu einem beachtlichen Rückgang der Demenzraten geführt. «In Grossbritannien ist das Risiko, zu erkranken, in den letzten 20 Jahren um mehr als 20 Prozent gesunken», sagt Merrick. Ähnliche Trends sind auch in anderen westlichen Ländern zu beobachten.

Bei Männern ist der Abfall besonders ausgeprägt. Das könnte unter anderem damit zusammenhängen, dass viele dieser Risikofaktoren Herz-Kreislauf-Erkrankungen ebenfalls begünstigen. Von denen sind im besonderen Masse Männer betroffen. Deshalb waren laut Merrick die entsprechenden Präventionskampagnen besonders auf sie ausgerichtet.

Diese Erkenntnisse sind aber nur Momentaufnahmen. «Viele Daten stammen von Untersuchungen mit Menschen, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geboren wurden», sagt Merrick. «Sie erzählen von einer vergangenen Zeit.» In Bezug auf Tabakkonsum oder Bildungsstand galten damals andere geschlechtsspezifische Bedingungen als heute.

Der Blick in die Zukunft: schwierig

Wie sich das Alzheimerrisiko von Männern und Frauen in Zukunft entwickeln könnte, lässt sich schwer vorhersagen. Wird es für Frauen dank höherem Bildungsniveau und besseren Berufschancen sinken? Könnte es bei Männern steigen, weil auch sie zunehmend ein höheres Alter erreichen? Kann die Hormonersatztherapie das Risiko für Frauen senken? Gene, Hormone, Bildung, sozioökonomische Verhältnisse, Lebensverläufe – sie alle beeinflussen die Hirngesundheit und das Demenzrisiko. «Alle Faktoren sind relevant, keiner erklärt alles allein», sagt Merrick.

Bei einer so komplexen Erkrankung wie der Alzheimerkrankheit ist eine sehr komplizierte Mischung von Einflüssen am Werk. «Die Hormone sind nur einer von ihnen», sagt Stepan. «Es gibt gute Belege dafür, dass eine mediterrane Ernährung die neuronale Gesundheit fördert und dass regelmässige körperliche Aktivität und Stressreduktion ebenfalls positive Effekte haben. Das sind Faktoren, von denen wir heute schon wissen, dass sie vor einer Demenz schützen können.»

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