Montag, Februar 3

Sie provozieren mit Überraschungsaktionen und tragen den Namen der Göttin des Zorns: Die Mitglieder des Collectif Némésis prangern sexuelle Übergriffe von Migranten gegen Frauen an. Linken Feministinnen werfen sie vor, auf einem Auge blind zu sein.

Es ist ein nebliger Morgen, als eine Gruppe junger Frauen am 31. Januar 2021 auf dem Trocadéro-Platz in Paris auftaucht. Die etwa dreissig Mitglieder des Collectif Némésis haben sich alle in einen schwarzen Nikab gehüllt. Vor der Silhouette des Eiffelturms entrollen sie ein Transparent mit der Aufschrift: «Die Französinnen in 50 Jahren?»

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Nach kurzer Zeit wird die Aktion von Polizisten gestoppt. Sie nehmen die Verantwortliche der Gruppe, Alice Cordier, in Gewahrsam. Acht Stunden später ist sie wieder auf freiem Fuss, schaltet ihr Handy an und wird von Textnachrichten und verpassten Anrufen überschüttet.

«Es sind an diesem Morgen unglaubliche Bilder entstanden. Auch wegen des Nebels, der die Spitze des Eiffelturms verhüllte», erzählt Cordier. «Plötzlich gab es einen riesigen Medienrummel.»

Düstere Botschaften

Die als «No Hijab Day» bezeichnete Aktion macht das Collectif Némésis schlagartig bekannt. In Interviews erklären Cordier und ihre Mitstreiterinnen, dass sie nach einer Antwort auf den «World Hijab Day» gesucht hätten. Dieser Tag wurde von einer amerikanischen Muslimin ins Leben gerufen, um für Offenheit gegenüber Kopftuchträgerinnen zu werben. Frauen in aller Welt werden ermuntert, selbst einmal den Hijab anzulegen. Kritiker sehen darin eine Propagandaaktion islamistischer Kreise.

Auch in Paris hatten Studenten der Elite-Hochschule Sciences Po für den Pro-Kopftuch-Tag geworben. Cordier schockierte das: «Ich verstehe nicht, wie eine Schule wie Sciences Po, die angeblich die Aufklärung und die Elite von morgen repräsentiert, so etwas vorschlagen kann.»

Zwei Jahre später wiederholen die Aktivistinnen ihren «No Hijab Day», dieses Mal am Fuss der Sacré-Cœur auf dem Montmartre. Gekleidet zur Hälfte in schwarze Nikabs, zur Hälfte in weisse Gewänder, stellen sie sich auf die Stufen vor die Basilika und entrollen ein Transparent, auf dem die Frage «Welche Zivilisation wollen Sie?» steht.

Es sind nur zwei von vielen Aktionen, mit denen das Collectif Némésis bewusst provozieren will, wie Cordier erklärt. Die 27-jährige Chefin der Gruppe, die sich als «rechte Feministin» definiert, sitzt an einem Januarnachmittag in einem Café im 4. Arrondissement von Paris. Mitgekommen zum Interview ist ihre Freundin Anaïs, 30 Jahre alt, die nur ihren Vornamen nennen will und im Kollektiv für die Rekrutierung neuer Mitglieder zuständig ist.

Nur als Feministinnen getarnt?

Die beiden Frauen sind elegant gekleidet und dezent geschminkt. Dass ihnen ihr äusseres Erscheinungsbild wichtig sei, haben die mediengeschulten Aktivistinnen schon anderen Journalisten erzählt. Sie wollten im Unterschied zu vielen linken Feministinnen nicht auf eine «kokette Weiblichkeit» verzichten, sagt Anaïs. Wer Röcke und Highheels trage, unterwerfe sich deswegen nicht den «Diktaten des Patriarchats», fügt Cordier hinzu.

Das Collectif Némésis – benannt nach der griechischen Göttin des Zorns und der vergeltenden Gerechtigkeit – wurde im Oktober 2019 von Cordier und Gleichgesinnten gegründet. Sie hätten damals mit den Themen Einwanderung und Islam und deren Folgen für die Sicherheit von Frauen ein neues Aktionsfeld für den Feminismus besetzen wollen, erzählt Cordier. Andere feministische Themen wie Lohngleichheit oder politische Gleichberechtigung hätten sie bewusst ausgeklammert. «Ich denke, jeder ist für Gleichberechtigung. Das ist wichtig, aber nicht lebenswichtig», sagt sie.

Linke Frauenrechtlerinnen wie Caroline De Haas vom Kollektiv Nous Toutes oder Politologinnen wie Magali Della Sudda, die das Buch «Die neuen rechten Frauen» geschrieben hat, sprechen ihnen deswegen ab, überhaupt feministisch zu sein. Sie kritisieren, dass das Collectif Némésis geschlechtsspezifische Gewalt auf Migranten und Muslime reduzieren wolle. Die Aktivistinnen, urteilte kürzlich das linksliberale Leitmedium «Le Monde», seien in Wahrheit Rassistinnen und «Identitäre, die sich als Feministinnen tarnen».

Cordier will den Vorwurf nicht gelten lassen. Sie kritisiert, dass viele Feministinnen sexuelle Übergriffe durch bestimmte Tätergruppen ausblendeten. «Wir sind sogar sehr feministisch, weil wir uns mit der Gewalt befassen, die Frauen erleiden, weil sie Frauen sind», sagt sie. Die Zahl der Belästigungen und Gewalttaten auf der Strasse sei nun einmal signifikant gestiegen, und überproportional daran beteiligt seien Männer aus dem islamischen Kulturkreis: «Wir denken, dass es eine schlechte Idee ist, massenhaft Männer, die ein reaktionäres Frauenbild haben, zu uns kommen zu lassen.»

Geprägt haben Cordier und Anaïs eigene Erfahrungen. Cordier erzählt, dass sie schon als 12-Jährige von bestimmten Männern «wie ein Stück Fleisch» betrachtet worden sei. Anaïs berichtet, dass sie erstmals mit 19 während eines Aufenthalts in London sexuell belästigt worden sei. Sie habe gegen die Täter, drei Männer mit pakistanischer Abstammung, danach Anzeige erstattet, doch sei sie von der Polizei nicht ernst genommen worden.

Bestimmte Täterkreise

Um ihre Position zu untermauern, verweisen die Aktivistinnen auf eine Studie des französischen Innenministeriums aus dem Jahr 2020. Laut dieser entfallen 63 Prozent aller sexuellen Übergriffe in öffentlichen Verkehrsmitteln im Ballungsraum Paris auf Personen ohne französische Staatsbürgerschaft, obwohl der Anteil der ausländischen Bevölkerung in der Region nur 14 Prozent beträgt. Überrepräsentiert sind demnach Verdächtige aus dem Maghreb und aus Subsahara-Afrika. Eingebürgerte Personen tauchen in den Statistiken erst gar nicht auf.

Auf seinem X-Account postet das Collectif Némésis täglich Fälle von Übergriffen gegen Frauen, und längst nicht immer handelt es sich dabei um Straftaten, an denen Migranten beteiligt sind. Die Gruppe äusserte sich beispielsweise auch zum Vergewaltigungsprozess in Avignon und prangerte die Rolle der Pornoindustrie an, die mit brutalen Videos eine Kultur der Vergewaltigung gefördert habe.

Aber die Aktivistinnen polemisieren vor allem gegen die politische Linke, gegen die «Mainstream-Medien» und gegen eine Justiz, der sie Laxheit vorwerfen. «Heute stehen wir in Frankreich einer von den Linken geprägten Justiz gegenüber, die mehrheitlich auf Reintegration statt auf Bestrafung setzt», sagt Cordier. Haftstrafen von durchschnittlich zehn Jahren für Vergewaltiger wirkten nicht abschreckend genug, findet sie, es gebe schlicht zu viele Wiederholungstäter.

Cordier unterstützt das Rassemblement national (RN), die rechtsnationale Partei von Marine Le Pen. In ihrer Jugend war die 27-Jährige weitaus extremer. Mit 15 hatte sie sich in ihrer Heimatstadt Orléans der Action française angeschlossen, einer rechtsradikalen Gruppe, die von der Wiedereinführung der Monarchie träumt. Sie habe sich damals amüsiert, erzählt sie, und viel über Frankreichs Geschichte gelernt, aber eine Royalistin sei sie heute nicht mehr.

Neben einem Studium der Rechts- und Sozialwissenschaften bildete sie sich am Institut für politische Bildung weiter, einer katholisch-konservativen Denkfabrik. Dort lernte sie viel über Kommunikation und Taktiken, auch im Umgang mit dem politischen Gegner.

Vom Innenminister geadelt

Einmal, im November 2021, marschierte sie mit anderen Mitgliedern des Collectif Némésis bei einer feministischen Demonstration gegen sexuelle Gewalt mit. Während der Kundgebung entrollten sie plötzlich ein Transparent mit einer verstörenden Botschaft: «99 Prozent der Afghanen befürworten die Scharia und 85 Prozent die Steinigung von ehebrecherischen Frauen. Frauenhass ist keine kulturelle Bereicherung!» Diese Zahlen stammen aus einer Umfrage des amerikanischen Pew Research Center von 2013, aber nach der Herkunft der Zahlen fragte an jenem Tag niemand. Mitglieder des linksextremen schwarzen Blocks gingen zum Angriff über, es flogen Flaschen, und die Aktivistinnen flüchteten in ein Café.

Mittlerweile hat das Collectif Némésis, das sich aus Spenden finanziert, 5 Festangestellte und 250 Aktivistinnen. Es gebe Verbindungen zu anderen Frauengruppen in Europa, erzählt Anaïs, nach Grossbritannien zum umstrittenen Islamkritiker Tommy Robinson, und auch zur französischsprachigen Schweiz, wo das Kollektiv viele Sympathisanten habe.

Für die Politologin Della Sudda ist das Collectif Némésis ein Paradebeispiel, wie identitäre Gruppen feministische Rhetorik und Aktionsformen für fremdenfeindliche Zwecke instrumentalisierten. Die Aktivistinnen seien das Produkt eines Kulturkampfes, der den Linken ihre intellektuelle Hegemonie streitig mache, glaubt sie.

Doch Cordier und ihre Gruppe sind salonfähig geworden, das zeigte kürzlich eine Pressekonferenz zur inneren Sicherheit in Paris. Dort hatte Cordier dem konservativen Innenminister Bruno Retailleau die Frage gestellt, ob die Regierung die Auflösung der linksextremen Gruppe La Jeune Garde in Erwägung ziehe. Retailleau antwortete mit einem Lob: «Bravo für Ihren Kampf. Sie wissen, dass ich Ihnen sehr nahestehe.» Erst später, als sich eine Welle der Empörung über den Innenminister ergoss, erklärte ein Sprecher, Retailleau habe nicht gewusst, dass die junge Frau auch «radikale Positionen» vertrete.

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