Samstag, März 15

Seit der deutschen Bundestagswahl haben die Grünen nur noch wenige Hochburgen. Die selbst ernannte Green City an der Grenze zu Frankreich und der Schweiz gehört dazu. Doch auch dort hat sich etwas verändert. Eine Reise in den Südwesten der Republik.

Das Schöne und das Böse, sie sind an diesem warmen Frühlingstag in Freiburg am Breisgau so nah beieinander, wie man es in dieser Stadt kaum für möglich halten würde. Die Dreisam rauscht, übertönt vom Juchzen der Kinder. Sie haben ihre Füsse im flachen Wasser, beobachtet von Müttern, die Babys im Arm halten, und Vätern, die an Lastenrädern in der Sonne hantieren. Idylle pur.

Optimieren Sie Ihre Browsereinstellungen

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

Im Gras, die Böschung hinauf, liegen junge Menschen, andere gesellen sich dazu. Sie kommen über den Ottiliensteg, der zehn Meter entfernt über die Dreisam führt, auf der anderen Seite Radfahrer in hohem Tempo und Jogger, die keuchend das alte Stadion des SC Freiburg passieren. Hinter den blickdichten Netzen hallen Rufe über den Trainingsplatz.

Vor dem Steg steht ein Baum, noch kahl. Ein Symbol wie kaum ein anderes für diese Stadt. Um ihn herum liegen bunte Steine und zwei Engel. Eine Kette spannt sich um den Stamm, mit Kugeln, die in der Dunkelheit fluoreszieren. Daran hängt das Foto einer Frau, sie lächelt, darunter der Aufdruck: «Wir werden Dich immer in unserem Herzen tragen.» Es steht nicht dabei, wer mit «wir» gemeint ist. Es sind vielleicht die Eltern oder die Freunde. Wahrscheinlich aber ist es die ganze Stadt.

Auf der Höhe des Baumes, unten im Fluss, entdeckte an einem Sonntag im Oktober 2016 eine Joggerin die Leiche der 19-jährigen Maria Ladenburger. Noch heute halten Menschen an der Stelle kurz inne. Ein afghanischer Migrant hatte die Studentin sexuell missbraucht und in der Dreisam ertrinken lassen. Bei der Gerichtsverhandlung sagte er, es sei doch nur eine Frau gewesen.

Zwei Morde wühlen die Stadt auf

Es war der erste aufsehenerregende Mord durch einen Asylmigranten seit der Flüchtlingskrise 2015 in Deutschland. Zahlreiche weitere sollten folgen. Heute ist die Bundesrepublik ein anderes Land. Der Kampf gegen die illegale Migration hat den Wahlkampf bestimmt. Der designierte Kanzler Friedrich Merz will die Grenzen dichtmachen. So gut wie alle Parteien befürworten einen rigideren Migrationskurs. Nicht zuletzt die Grünen aber wollen weiter offene Grenzen.

Bei der Bundestagswahl gehörten sie zu den grossen Verlierern. Sie konnten nur noch wenige Wahlkreise direkt gewinnen. Eine Handvoll Hochburgen, mehr haben sie nicht mehr. Eine davon ist die Stadt, die durch den Mord an Maria Ladenburger und einen weiteren, vier Wochen später in der Nähe, aufgewühlt und verunsichert wurde. Freiburg, die selbst ernannte Green City tief im Südwesten Deutschlands, stemmt sich gegen den Trend. Sie wählt zu grossen Teilen grün.

Warum das so ist, darauf gibt es kaum die eine Antwort. Aber es gibt Orte und Menschen, die diese Stadt und ihren Hang zu den Grünen erklären. Einer von ihnen sitzt in einem Zimmer mit Blick auf Mehrfamilienhäuser, an der Wand stehen Regale mit Flyern des Weissen Rings, eines Opferhilfevereins. Peter Egetemaier berät hier Kriminalitätsopfer. Vor neun Jahren war er einer der bekanntesten Kriminalbeamten Deutschlands. Egetemaier leitete die Sonderkommissionen, die neben dem Ladenburger-Mord auch noch einen zweiten Mordfall aufklärten, der nur vier Wochen später in Endingen nahe Freiburg geschah.

Der hochgewachsene pensionierte Leitende Kriminaldirektor lehnt sich in einen Sessel, schlägt die Beine übereinander und erinnert sich an die Zeit, als Freiburg und Umgebung im Ausnahmezustand waren. Beim Stadtmarathon seien damals kaum Frauen aus der Region am Start gewesen, weil sie nicht hatten trainieren können, sagt Egetemaier. «Sie trauten sich nicht, nach Feierabend noch zu laufen.»

Eine Zeit der Angst

Es sei eine Zeit der grossen Angst und der tiefen Verunsicherung gewesen. Den Mörder von Maria Ladenburger überführte die Polizei gut acht Wochen nach der Tat anhand eines Haars, das sie am Ufer der Dreisam fand. Der Afghane hatte seinen schwarzen Schopf blond gefärbt. In dem anderen Fall wurde in Endingen eine Joggerin erschlagen und ebenfalls missbraucht. Es dauerte fast sechs Monate, bis es der Polizei gelang, einen Lkw-Fahrer aus Rumänien des Mordes zu überführen.

Egetemaier erinnert sich bis heute an die Einzelheiten. Ihm geht es im Gespräch aber weniger um die Leistung seiner Sonderkommissionen, die er immer noch als etwas ganz Besonderes bezeichnet. Vielmehr, sagt er, sei er stolz gewesen auf die Freiburger, die das Geschehen trotz allen beunruhigenden Ereignissen differenziert betrachtet hätten. «Es gab keine Demos gegen Flüchtlinge, keine grosse Aufregung wie jüngst in anderen Städten nach solchen Verbrechen», sagt er. Jede Tat sei einzeln zu bewerten, so habe man das in Freiburg gesehen.

Egetemaier trägt ein blaues Sakko, am Revers das Logo des Weissen Rings, dessen Freiburger Aussenstelle er leitet. Er sagt, wenn es schlecht laufe, habe der Verein vom Sommer an keine Beratungsräume mehr. Er müsse die Büros, die von den Besitzern unentgeltlich zur Verfügung gestellt werden, räumen. Geld für neue habe die Opferhilfsorganisation nicht.

Eine 18-Jährige wird von zehn Männern vergewaltigt

Egetemaier weiss aus vierzig Jahren Polizeiarbeit, wie schnell Menschen Opfer einer kriminellen Tat werden können. So wie die 18-jährige Frau, die im Oktober 2018 in Freiburg von zehn Männern, darunter mehreren Asylmigranten, vergewaltigt wurde. Sie hätten das damals nicht für möglich gehalten, als die Frau zu ihnen gekommen sei, sagt er. Aber es stimmte, was sie erzählte, das ergaben die Ermittlungen. Doch auch da sei die Empörung in der Stadt ausgeblieben. Egetemaier versucht sich an einer Erklärung, warum das so ist.

Freiburg sei sehr liberal. Das habe vermutlich mit dem Wohlstand zu tun, mit dem akademischen Milieu und der Weltoffenheit, die sich aus der Lage der Stadt speise. Frankreich und die Schweiz liegen um die Ecke. Das Leben sei wohl entspannter als im Rest der Republik. Um das zu verstehen, genüge ein Blick auf die Wetterkarte. Freiburg sei einer der wärmsten Orte Deutschlands. In einem solchen Klima verhärteten sich die Fronten nicht so schnell.

Es ist vielleicht eine etwas zu einfache Erklärung. Richtig ist, dass Freiburg im «Sonnengürtel» der Republik liegt. Hier am Oberrhein scheint die Sonne statistisch am meisten, und in einem solchen Klima lebt es sich offenbar besonders gut. Seit Jahrzehnten kennt Freiburg nur Wachstum. Noch bis 1962 war die Stadt eine eher verschlafene, konservativ-katholische Bischofsstadt. Seitdem stieg nicht nur die Zahl der Studenten auf heute 35 000, sondern auch die der Einwohner. Die Stadt zählt 230 000 Menschen, und immer neue drängen hinzu.

Sozialisiert durch die Anti-Atomkraft-Bewegung

Das Freiburger Selbstverständnis speist sich allerdings nicht allein aus den vielen Sonnenstunden. Gut fünfzig Jahre ist es her, dass eine Bewegung entstand, die Stadt und Umland bis heute prägt. Im nahe gelegenen Wyhl sollte ein Atomkraftwerk gebaut werden. Menschen stellten sich vor die Baumaschinen, unter ihnen Kaiserstühler Winzerinnen und Freiburger Hippies, konservative Landfrauen und linke Studenten, evangelische Pfarrer und örtliche Würdenträger. Der erfolgreiche Protest gegen Wyhl gehört zum Gründungsmythos der Grünen in Deutschland.

Wie intensiv er bis heute wirkt, lässt sich in einem Stadtteil beobachten, der das Ergebnis des Freiburger Booms ist. Vauban war der Name einer französischen Kaserne, die die Stadt nach dem Abzug der ehemaligen Besatzungssoldaten zu einem weltweit nachgeahmten, ökologisch ausgerichteten Wohngebiet ausgebaut hat. Gut 60 Prozent der hier lebenden Menschen haben bei der Bundestagswahl für die Grünen gestimmt. Hier schlägt sich das Lebensgefühl offenbar im politischen Abstimmungsverhalten nieder.

Wenn Freiburg eine Stadt für sich ist, dann ist es Vauban noch einmal besonders. Beim Gang durch die Strassen fällt das Nichts auf. Kein Autolärm. Keine Parkplätze. Kein Flug- und Industrielärm. Nur Vogelgezwitscher und das Krächzen von Krähen in den Bäumen, die vor blau, rot, braun und weiss beschlagenen Häusern stehen, drei bis vier Etagen hoch, auf jedem Dach Solarpanels. Unten auf den Strassen bewegen sich Radfahrer. Rennräder, Tourenräder, Lastenräder, Liegeräder, Trekkingräder, Kinderräder, nichts, was es nicht gibt. Nur E-Bikes, die sieht man nicht. Selbst Greise fahren klassisch Rad.

Das Rebellentum von Vauban

An einem Stromkasten klebt ein Plakat, das für eine Demonstration am 8. März, dem Weltfrauentag, wirbt. «Zusammen für einen emanzipatorischen und universellen Feminismus», steht darauf. Darüber gut sichtbar der Hinweis «Bekleben verboten. Anschläge werden kostenpflichtig entfernt». Jährlich kommen Tausende Menschen aus aller Welt nach Vauban, um zu sehen, wie man nachhaltig bauen und leben kann – und sich vielleicht auch ein bisschen Rebellentum bewahrt.

Es sind die Details, die das Spezielle dieser Stadt ausmachen. Man findet sie auf Plakaten, aber auch am Rand von Wohnblöcken, wo ein Bauwagen steht, daran ein Schild «All Genders». Davor befindet sich eine Feuerstelle mit Hollywoodschaukel, darauf ein Mann mit Rastalocken, eine Bierflasche in der Hand, Reggae-Musik schallt aus einer Box, der Geruch eines Joints liegt in der Luft. Leben und leben lassen, so sieht es scheinbar auch die Stadtverwaltung. Sie duldet seit Jahren eine Wagenburg um die Ecke, am Strassenrand abgestellte Camper, Busse und Anhänger, rostende Karossen ohne Kennzeichen und mit platten Reifen. Dazwischen sitzen Hippies in der Sonne.

Der britische «Guardian» berichtete vor mehr als fünfzehn Jahren in einem grossen Artikel über Freiburg mit der Überschrift «Ist das die grünste Stadt der Welt?». Das war 2008, da war die Freiburger Welt noch sehr in Ordnung. Inzwischen bricht sich auch dort die deutsche Realität Bahn. Man kann sie auf Plakaten an Tramhaltestellen sehen, auf denen für den ARD-Vierteiler «Spuren» geworben wird. Die Serie zeichnet die Arbeit der Soko bei der Aufklärung der Morde vor neun Jahren nach.

Wo die AfD die meisten Stimmen holte

Man kann es vor allem aber an zwei Stadtteilen sehen, die anders sind als das hippe, ökologische, teure und ultragrüne Vauban. Auch Landwasser und Weingarten sind Resultat des Freiburger Booms, allerdings nicht in den neunziger Jahren errichtet wie Vauban, sondern früher, als in Westdeutschland mit grosser Beständigkeit städtebauliche Sünden begangen wurden. Teile von Landwasser und Weingarten sind Trabantenstädte. Hier holte die AfD mit etwas mehr als 20 Prozent die meisten Erststimmen.

Martina Kempf hat davon profitiert. Sie trat als AfD-Kandidatin in Freiburg an und schaffte auf Anhieb den Sprung in den Bundestag. Sie sitzt in einem Restaurant an einem Ort ausserhalb der Stadt, dessen Name nicht genannt werden soll. Sie wolle nicht, dass ihr «die Antifa hier auflauert», sagt sie. Mit denen verbinde sie unschöne Erfahrungen.

Sie sitzt vor einem Glas Tee, blauer Lidschatten und eine Perlenkette über einer Bluse, darüber eine blaue Jacke, und spricht schüchtern, mit leiser Stimme. Sie wirkt wie eine dieser christlichen Missionarinnen, die in Bahnhöfen und Fussgängerzonen stehen und darauf warten, von Passanten angesprochen zu werden. Der Schutz ungeborenen Lebens, darauf kommt Kempf im Gespräch immer wieder zurück, der sei ihr wichtig. Bevor sie zur AfD kam, war sie bei der «Partei für Arbeit, Umwelt und Familie – Christen für Deutschland». In der AfD sei Familie ein Kernthema, sagt sie. Da habe sie ihre politische Heimat gefunden.

Es ist ein merkwürdiges Gespräch. Sie nickt viel, räuspert sich oft und rührt ihren Tee kaum an. Auf die Frage, wie sie sich den Erfolg in Landwasser und Weingarten erklärt, zieht sie einen Artikel der Lokalpresse hervor und zitiert daraus. Die Leute in beiden Stadtteilen seien sozial benachteiligt, sie könnten nicht erreichen, was sie erreichen wollten. Sie fühlten sich nicht gehört und wählten auch aus Protest die AfD. So, wie sie das sagt, wirkt es, als habe sie selbst keine Meinung, als brauche sie fremde Texte als Stütze.

Putins Staatsfernsehen als Informationsquelle

Das kann man auch bei anderen Themen hören. Nein, Björn Höcke stehe dem Rechtsextremismus nicht wirklich nahe, sagt sie. Die wenigsten Leute, die sich über ihn beklagten, könnten überhaupt Aussagen von ihm wiedergeben. Nein, Nachrichten schaue sie nicht mehr, die deutschen Medien berichteten zu einseitig. Dass viele Russlanddeutsche das Staatsfernsehen Putins schauten, trage dazu bei, dass sie sich «aus vielen Richtungen informieren» könnten. Das hört sich an wie bei einem AfD-Rhetorik-Seminar.

Man kann in Freiburg wahrlich nicht von einem beginnenden Siegeszug der AfD sprechen. Sie kommt im Wahlkreis Freiburg auf insgesamt 10 Prozent, in der Stadt selbst auf 8,8. Martina Kempf meint, sie sei nicht zuletzt von vielen jungen Männern gewählt worden, die gegen den «linksgrünen Zeitgeist» rebellierten. Es gebe in Freiburg inzwischen eine Opposition gegen die Grünen, besonders aus der Friedensbewegung. «Die Grünen sind jetzt die Kriegstreiber», meint sie.

Kempf sagt, insbesondere Schüler an den Berufsschulen erzählten ihr, sie würden von «linken Lehrern politisch manipuliert». Das ist ein schwerer Vorwurf. Lehrer müssen im Unterricht politisch neutral sein.

Der Mann, der illegale Waffengeschäfte aufdeckte

Es gibt in Freiburg allerdings einen Pädagogen, der mit seinen politischen Überzeugungen nie hinter dem Berg hielt. Jürgen Grässlin hat Bücher über Waffenhandel geschrieben und Heckler & Koch vor Gericht gezerrt. Das Unternehmen produziert in Oberndorf, gut eine Autostunde von Freiburg entfernt, Gewehre und Pistolen. Grässlin, ein früherer Realschullehrer, deckte illegale Geschäfte des Unternehmens in Mexiko auf. Auf das Garagentor unterhalb seines Wohnhauses hat er eine Friedenstaube vor Regenbogenfarben gemalt. Grässlin ist einer der bekanntesten Friedensaktivisten Deutschlands.

Er hat einen Pub in der Innenstadt als Treffpunkt vorgeschlagen. Dort ist es an diesem Abend leer, man kann in Ruhe reden. Grässlin gehört allerdings nicht zu den leisen Leuten. So wie er Heckler & Koch vor einigen Jahren laut- und meinungsstark vor sich her getrieben hat, so deutlich spricht er auch über Freiburg und die Grünen. Grässlin war dort fast fünfzehn Jahre Mitglied, weder pragmatischer Realo noch linker Fundi, sondern, das betont er gern, immer Pazifist und Humanist.

Damit hatte er es bei den Grünen nicht leicht. Er trat aus, als die Partei für den Kosovo-Einsatz der Bundeswehr stimmte. Das war 1998. Damals sei seine Illusion geplatzt, die Grünen seien anders als die anderen. Der damalige Aussenminister und Parteivorsitzende Joschka Fischer habe die Partei auf Linie gebracht, nicht weil er vom Krieg überzeugt gewesen sei, sondern weil er die Grünen an der Macht halten wollte. Die Partei koalierte damals mit der SPD unter Kanzler Gerhard Schröder.

Macht korrumpiere, sagt Grässlin, und das macht er nicht nur an Fischer fest. Die Grünen hätten in Freiburg die Mehrheit im Stadtrat, sie brächten dort mit den Stimmen der CDU-Fraktion durch, was sie wollten, ohne Rücksicht auf andere. Dagegen begehrten viele in der Stadt zunehmend auf. Das gehe gegen ihr Solidaritätsgefühl. Es verschiebe sich etwas, sagt er, langsam, spürbar. Nicht wenige Menschen aus kirchlichen Organisationen, Gewerkschaften und Gruppierungen der «sozialen Bewegung» würden sich von den Grünen abwenden.

Entschleunigt und selbstgerecht

Grässlin lebt Freiburg mit seiner Gemütlichkeit und seiner entschleunigten, mitunter selbstgerechten Art. Und da, sagt er, seien sich die Stadt und die Grünen sehr ähnlich. Wenn man in Freiburg lebe, bekomme man von den Unbilden der Welt wenig mit. Eine Blase, so wie die Grünen eine seien, so beschreibt es Grässlin.

Ein paar Wochen vor der Wahl sei er beim Auftritt des grünen Kanzlerkandidaten Robert Habeck in der Stadt gewesen. 800 «begeisterte Jünger», Standing Ovations, «das kann schon blenden», sagt Grässlin. «Als ich Habeck am Wahlsonntag im Fernsehen sah, wusste ich, dass das Ergebnis ein schwerer Schlag für ihn war. Dabei hätte er damit rechnen müssen, wenn er den Menschen besser zugehört hätte.»

Man kann durch Freiburg laufen, mit seinen Menschen reden, mit Politikern und Studenten, und findet Freundlichkeit, Wärme, Freude. Das hat nicht zwingend mit den Grünen zu tun, eher mit Lebensart. Doch will man das Besondere dieser Stadt an einem Ort finden, dann muss man zur Messe fahren, an den Flugplatz, dort, wo das neue Stadion des SC Freiburg steht. Wenn es einen Bundesligaverein in Deutschland gibt, den so ziemlich jeder Fan sympathisch findet, dann ist es dieser Klub.

Photovoltaik auf dem Stadiondach

Über den Eingang zum VIP-Bereich kommt man in die Verwaltung. Dort bittet Hanno Franke, ein Endfünfziger mit grauem Haar und seit dreissig Jahren im Verein, in einen Besprechungsraum mit Blick auf das Spielfeld. Er ist der Marketingchef und schiebt ein rotes Buch über den Tisch. Es ist der Nachhaltigkeitsbericht des SC Freiburg.

Als der SC Anfang der neunziger Jahre in die 1. Bundesliga aufstieg, habe er als erster Profiklub eine Photovoltaikanlage auf dem Stadiondach gebaut, sagt Franke. Dahinter habe viel intrinsische Motivation der damaligen Entscheidungsträger gestanden, sich für den Umwelt- und Klimaschutz einzusetzen. Das sei mit einem gewissen strategischen Gespür verbunden gewesen, dem Verein ein Profil zu geben.

Risse im Freiburger Idyll

Durch das Panoramafenster sind die roten Tribünensitze der Gegengeraden zu sehen und der Rasen, über den Vertikutierer fahren. In zwei Tagen spielt der RB Leipzig hier. Franke sagt, der Sportklub sei fest in Freiburg verwurzelt und fühle sich den Klimazielen der Stadt verpflichtet. «Vor allem aber sind wir ein Fussballklub, in dem der Sport und die Ergebnisse zählen.»

Doch der SC Freiburg steht für etwas, das dem Profifussball mehr und mehr verlorengeht. In keinem Verein schaffen es mehr Spieler aus dem eigenen Nachwuchs in das Profiteam. Kein Klub hält so ausdauernd an seinen Trainern fest, auch wenn es schlecht läuft. Bei keinem Verein kommen 7000 Fans zum Heimspiel mit dem Fahrrad. Der Verein entwickelte sogar eine Plakataktion zur Bundestagswahl. «Unsere Werte, unsere Wahl», so hat der Sportklub in der ganzen Stadt geworben.

Es sei ihnen dabei nicht um ein einseitiges politisches Statement gegangen, sagt Franke, sondern um Respekt, Solidarität, Vielfalt und Demokratie. Das seien die Werte des Vereins. Ja, der schwindende Zusammenhalt in der Gesellschaft bereite ihnen beim Sportklub Sorge. Man kann es auch anders ausdrücken: Das Freiburger Idyll hat Risse bekommen.

Exit mobile version