Freitag, November 1

Noch vor hundert Jahren waren die Strassen in New York ein Begegnungsort. Dann kamen die Autos. Und jetzt?

Bei Rot über die Strassen zu gehen, ist eine New Yorker Tradition. Es gibt sogar einen Begriff dafür: «Jaywalking». In allen Filmen aus der Stadt eilt einmal eine Person über die Strasse, umgeben von hupenden Autos und fluchenden Taxifahrern. Der Verkehr der Stadt ist ein Gewusel aus gelben Taxis, Scootern, Fahrrädern, Strassenverkäufern, Fussgängern.

Doch dieses Verhalten konnte bisher mit einer Busse von bis zu 250 Dollar bestraft werden. Nun hat die Regierung New Yorks das Verbot gekippt, ab Februar 2025 ist Jaywalking offiziell erlaubt.

Die Demokratin Mercedes Narcisse ist die Initiantin der Gesetzesänderung. Sie sagte dazu: «Regelungen, die das normale Verhalten bei alltäglichen Dingen bestrafen, sollte es nicht geben. Wir müssen realistisch sein: Jeder New Yorker ist ein Jaywalker.»

Jaywalker sollen sich schämen

Das neue Gesetz erlaubt es Fussgängern, eine Strasse an jeder Stelle zu überqueren: neben Fussgängerstreifen, auf Fussgängerstreifen, selbst wenn die Ampel rot ist. Die einzige Einschränkung: Passanten haben ausserhalb von Fussgängerstreifen keinen Vortritt.

In Deutschland und der Schweiz ist es auf nationaler Ebene verboten, bei Rot die Strasse zu überqueren. In der Schweiz kann man zudem gebüsst werden, wenn man in einem Abstand von weniger als 50 Metern zu einem Fussgängerstreifen über die Strasse läuft. Doch geahndet wird das Vergehen kaum.

Im New Yorker Verkehrsalltag wird sich mit dem neuen Gesetz wenig ändern. Doch symbolisch bedeutsam ist die Gesetzesänderung allemal. Das hat auch mit der Geschichte zu tun, wie es überhaupt zum Verbot von Jaywalking kam:

Noch bis Anfang der 1920er Jahre gehörten in den USA die Strassen den Fussgängern, sie waren ein Ort des Vergnügens und ein Ort der Begegnung. Strassenverkäufer legten ihre Ware aus, Kinder spielten. Es gab zwar Kutschen, doch sie mussten verlangsamen und ausweichen.

In den 1920er Jahren kamen die Autos. Sie waren schneller als die Kutschen und damit für die Bewohner der Stadtviertel gefährlicher. Mit den Autos stieg auch die Zahl der Verkehrstoten rasant an und wurde zum dominierenden Thema in den Zeitungen. Die Öffentlichkeit war empört, Städte bauten Mahnmale für die im Verkehr getöteten Kinder, Schuld an den Unfällen hatten für die Bevölkerung einzig die Autofahrer.

Im November 1924 schrieb die «New York Times» auf der Frontseite: «Die Nation wendet sich gegen Motor-Morde». Darüber prangte die Zeichnung eines überdimensionierten Autos, das Menschen auf der Strasse überfährt. Hinter dem Steuer: ein Totenkopf. Andere amerikanische Zeitungen druckten Zeichnungen ab, die Autofahrer als Sensenmann darstellten.

Die Fussgänger kommen zurück

Doch die Verbreitung des Autos war kaum aufzuhalten. Bilder vom New Yorker Stadtteil Manhattan aus dem Jahr 1925 zeigen Strassen voller Autos, Fussgänger gehen am Strassenrand. In der Politik bildeten sich zwei Gruppen: die Auto-Befürworter und die Auto-Gegner.

Die Auto-Gegner begannen in verschiedenen Städten der USA Regeln für Autos zu fordern. In Autos sollten etwa spezielle Geräte eingebaut werden, die die Maximalgeschwindigkeit drosseln. Doch die Autohändler begannen, sich gegen die drohende Einschränkung zu formieren. Schliesslich war es die höhere Geschwindigkeit, die Autos beliebter machte als Kutschen.

Die Autolobby setzte durch, dass statt der Autofahrer die Fussgänger eingeschränkt werden. In den Städten entstanden immer mehr Fussgängerstreifen und Ampeln. Die Strasse gehörte nun den Autofahrern.

Es wurden Poster gestaltet, die den Passanten ihren neuen Platz in den Strassen klarmachten. Sie wiesen darauf hin, wie gefährlich Jaywalking sei. Und sie machten sich über Fussgänger lustig, die es doch taten. Es gab Kampagnen in Schulen, die Kindern das richtige Verhalten im Verkehr zeigen sollten. Das neue Narrativ: Wird ein Passant mitten auf der Strasse angefahren oder überfahren, ist er selbst schuld.

Scham galt als die wirkungsvollste Massnahme, damit sich Fussgänger an die neuen Regeln hielten. Dazu passt der Begriff «Jaywalking», der sich etablierte: Das Wort «Jay» bedeutete damals so viel wie «Bauerntrampel» oder «Hinterwäldler» – ein Mensch aus der Provinz, der nicht weiss, wie man sich in einer Stadt benimmt.

1958 stellte New York Jaywalking zusätzlich unter Strafe. Doch wirklich davon abhalten liessen sich die Bewohnerinnen und Bewohner auch mit der drohenden Busse nie. Gut möglich, dass die meisten nicht einmal mitbekommen haben, dass das Verbot nun abgeschafft wird.

Die Jaywalker selbst wissen es am besten: Sie sind weder Idioten noch Hinterwäldler. Sie sind normale Städter.

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