Moral sei kein Grund, um Literatur nachträglich zu korrigieren, sagt Melanie Möller. Die Literaturwissenschafterin plädiert für die Freiheit der Literatur.

Frau Möller, darf Literatur alles?

Absolut. Im Bereich der Fiktion darf Literatur alles.

Aber es gibt offenbar Grenzen. In vielen Büchern wird das N-Wort geändert, und in der Schweiz hat letztes Jahr das Wort «Zigeuner» in einem Romanmanuskript von Alain Claude Sulzer hohe Wellen geworfen.

Ich finde das hochproblematisch. Jeder Eingriff ist eine Korrektur und somit anmassend. Korrekturen sind eine Form der Übergriffigkeit und Aneignung. Sie gehen davon aus, dass wir heute weiter entwickelt seien als die Verfasser. Dahinter steht die teleologische Vorstellung, dass man in der Gegenwart immer am klügsten ist. Aber so ist es ja nicht. An literarischen Texten sollte man schon deshalb nichts ändern.

Wo liegt das Problem, wenn man zum Beispiel den «Negerkönig» in «Südseekönig» umbenennt, wie dies bei «Pippi Langstrumpf» geschehen ist?

Bezeichnungen wie «Negerkönig» oder «Zigeunerin» spiegeln ihre Zeit und die kulturelle Prägung wider und haben darin ihre Berechtigung. Sie ermöglichen eine Differenzierung der Darstellung und eine kritische Auseinandersetzung damit. Der Ersatz ist ja oft auch unsinnig.

Wie meinen Sie das?

Der «Südseekönig» bei «Pippi Langstrumpf» weckt wieder andere Assoziationen, vielleicht sogar schlimmere als «Negerkönig». Ich kenne Leute, die bei «Südsee» an halbnackte hawaiianische Mädchen denken.

Wenn nur einzelne Wörter geändert werden: Was ist daran so schlimm?

Die Ersatzwörter bedeuten eben nur etwas Ähnliches. Sie vereinfachen und machen die Dinge blass. Von Jim Knopf bleibt nur noch der «Junge», alles Drumherum, wie er aussieht, die Differenziertheit der Beschreibung und die Möglichkeiten zur Diskussion gehen verloren. Doch Sprache ist auch dazu da, um Unterschiede zu beschreiben. Unterschiede sind zunächst mal nichts Negatives, sondern etwas Schönes. Zudem ist es selten so, dass ein inkriminiertes Wort nur einmal in einem Text vorkommt. Das sieht man etwa beim «Mohr» in Shakespeares «Othello». Jede Änderung bedeutet auch eine Änderung des Kontextes. Die Facetten des ursprünglichen Wortes gehen verloren, die deskriptiven, die positiven und auch die kritisierenswerten.

Es ist eine Tatsache, dass sich viele Menschen durch das N-Wort verletzt fühlen. Dahinter steht historisches Unrecht. Was sagen Sie ihnen?

Das «N-Wort» ist ohne Zweifel sensibler als andere Fälle. Aber das müssen die, die sich betroffen fühlen, aushalten. Sie haben viele Möglichkeiten, den Text zu kritisieren. Doch Betroffenheit rechtfertigt keine nachträglichen Eingriffe in die Literatur.

Müssen wir uns einfach daran gewöhnen, dass Literatur auch Diskriminierendes enthält?

Ja. Alle müssen das aushalten. Für manche Gruppierungen ist das historisch nachweisbar heikler, aber dennoch muss es ertragen werden. Das Wort «Juden» war in Deutschland einmal ein ganz schlimmes Schimpfwort. Bei «Neger» gibt es auch eine vielfältige Entwicklung zwischen positiver und negativer beziehungsweise wertneutraler Bedeutung.

Sollte man die Leser über eine solche Bedeutungsveränderung nicht informieren?

Gewiss kann ein Kommentar für eine solche Information genutzt werden. Fussnoten oder Anmerkungen direkt im literarischen Text finde ich schon wieder schwierig, weil das schnell zu einem Erläuterungswahn ausufern kann, dem man die Unsicherheit der Verfasser anmerkt. Grundsätzlich ist es ein Unterschied, ob ein Wort in der Literatur verwendet wird oder im Alltag. Im Alltag habe ich ein Gegenüber und weiss, dieses Wort könnte den anderen kompromittieren. Dann verwende ich es nicht.

Literatur ist also ein geschützter Raum?

Es muss einen Raum geben, wo der Phantasie keine Grenzen gesetzt sind, also wirklich gar keine. Denn das Verletzende, das Beleidigende, das, was heute Hassrede genannt wird, das Unzumutbare, das Böse – all das gehört zum Menschen. Das können wir tagtäglich beobachten. Und es ist wichtig, es zu kanalisieren. Es muss einen Raum dafür geben, alles denken zu dürfen.

Mit der Folge, dass gewisse literarische Werke gar nicht mehr gelesen werden?

Das wäre der Verlust, den die Literatur dann hinzunehmen hätte, dass sie ein paar Leser verliert. Dafür gewinnt sie vielleicht solche, die sich freuen, dass es hier noch Freiräume gibt. Und für den Kinderschutz reicht eine Altersbeschränkung aus.

Die Korrekturwut ist bei Büchern für Kinder ausgeprägter. Warum?

Hier zeigt sich ein gesellschaftliches Wohlfühl-, Schutz- und Sicherheitsbedürfnis. Die Schutzbedürftigen sind nach wie vor die Kinder. Bei ihnen kann man seine Kontrollgelüste ausleben. Oft traut man ihnen wenig zu. Kinder für so naiv zu halten, dass sie Vorurteile eins zu eins aus einem Buch auf die Wirklichkeit übertragen, halte ich für eine Unterschätzung ihrer Phantasiebereitschaft und Differenzierungsmöglichkeiten. Das ist der Kinder unwürdig. Warum sollten sie in Büchern nicht erfahren, wie jemand aussieht? Es gibt ja nicht nur schwarz/weiss, sondern alle möglichen Farbschattierungen. Kinder fragen schon von selber nach, wenn sie etwas seltsam finden, und dann kann man das ja erklären.

Wie reagieren Sie selbst, wenn Ihnen in einem Text etwas begegnet, was Sie abstösst?

Ich rege mich auf. Ich hatte schon als Teenager Probleme mit dem Wort «Weib», das in der Literatur ja häufig auftaucht. Ich dachte jeweils: Was für ein chauvinistischer Kram! Später lernte ich, dass das Wort sprachgeschichtlich verschiedene Bedeutungen hat. Auch heute ärgere ich mich noch über Texte. Ich diskutiere dann darüber, mit Freunden oder in der Öffentlichkeit, das hilft ungemein.

Warum sollen wir uns an Literatur reiben?

Weil uns das bereichert. Weil wir nicht nur aufgeklärte Menschen mit starker Ratio sind, sondern auch Affekte haben. Gefühle gehören zu uns, und wir sollten sie zu artikulieren lernen. Das trägt zur Reifung des Denkens und Fühlens bei. Überhaupt trägt es zur Menschlichkeit bei, dass wir uns aus der Reserve locken lassen. Es ist tatsächlich so, dass man nachher im Alltag anders mit Konflikten umgehen kann. Literatur kann helfen, heiter zu bleiben.

Cancel-Culture habe eine lange Geschichte, schreiben Sie in Ihrem Buch. Wann begann sie?

Bereits mit dem Aufkommen der Literatur. Es gab schon in der Antike Streit, worüber man schreiben darf. Eine der berühmtesten Debatten aus römischer Zeit ist die zwischen Ovid und Augustus über die «Liebeskunst», ein Werk, wofür der Autor ins Exil geschickt worden sein soll. Künstlerischer Freiraum hat die Mächtigen immer mal wieder irritiert – und verunsichert.

Antike Texte sind heute in Verruf geraten, vor allem aus feministischer Sicht. Können Sie als Altphilologin diese Kritik nachvollziehen?

Überhaupt nicht. Diese Kritik ist im Grunde antifeministisch. Feminismus muss sämtliche Formen weiblicher Sicht auf die Welt zulassen. Überall weibliche Opfer männlicher Gewalt zu sehen, ist ja nur eine Perspektive von vielen, noch dazu eine sehr eingeschränkte. Unter dem Deckmantel der Sachlichkeit stellt man assoziative Verbindungen her zwischen Frauendarstellungen in antiken Texten und Gewaltverbrechen, die sich auf der Welt ereignen. In der Antike widerfährt aber auch Männern oder Eunuchen vielerlei Unrecht, auch sie werden literarisch vorgeführt. Das spiegelt zum Teil gesellschaftliche Verhältnisse der damaligen Zeit wider, aber nicht nur. Literatur ist eben auch ein Phantasieraum. Es ist übrigens gerade Ovid mit seinen «Metamorphosen», der das alles sehr differenziert beschreibt. Es wurde ihm unterstellt, er ergötze sich an Gewalt gegen Frauen, dabei geht er sehr subtil vor, wenn er die erotischen Abenteuer zum Beispiel zwischen Göttern und Menschen beschreibt.

Und die Frauen kamen selten selbst zu Wort . . .

Es gibt in der antiken Literatur zwar nicht viele weibliche Stimmen, aber es gibt sie. Einige hatten die Chance, Dichterin zu werden, wie Sappho. Diese Frauen stammten natürlich aus besseren Kreisen, aber das ist ja auch heute nicht viel anders, sieht man von Internetplattformen einmal ab. Zudem gibt es auch männliche Autoren, die Frauen haben sprechen lassen, der altgriechische Dramatiker Euripides etwa.

Die antike Gewaltdarstellung ist aus heutiger Sicht drastisch, ja erschreckend. Können wir daraus überhaupt etwas lernen?

Wir können in antiken Darstellungen das erkennen, was auch in unseren aufgeklärten Gesellschaften passiert. Wie schlecht es Menschen geht, die im Krieg leben. Es gibt Abgründe, die wir für bestialisch halten. Sie erhalten ihren Raum in der Literatur. In der Antike war Geschichtsschreibung eine andere Gattung. Man arbeitete auch mit fiktiven Elementen, und die Grenze zur Beschreibung wirklicher Grausamkeit war fliessend. Durch diese Texte kann man lernen, sich vorzustellen, wie es damals aussah und wie es teilweise, an anderen Orten als in Deutschland oder der Schweiz, auch jetzt noch aussieht. Sie erweitern den eigenen Vorstellungshorizont. Das stärkt die Imaginationskraft.

Warum ist es wichtig, zwischen Kunst und Leben zu unterscheiden? Heute geht der Trend gerade in die andere Richtung, hin zu Autofiktion und Authentizität.

Das ist eine sehr komplexe Frage. Natürlich ist diese Unterscheidung künstlich und funktioniert nur bis zu einem gewissen Grad. Gewiss ist Phantasie auch von lebensweltlichen Umständen geprägt. Trotzdem würde ich auf ihr beharren. Wenn ich die Grenze zwischen Leben und Kunst ziehe, sage ich beispielsweise: Das ist ein Roman, das ist ein geschützter Raum. Darin kann das wilde Denken sich entfalten. Es ist das Entrée in eine Phantasiewelt, in der ich eine ästhetische Erfahrung machen kann.

Wie ist dieser Raum beschaffen? Was macht ihn aus?

Dass er zulässt, dass alles drinstehen darf. Man tritt in diesen Raum, egal, wo in der Wirklichkeit man sich gerade befindet, und kann und darf alles denken. Man sinkt ein in einen Kosmos, der die Möglichkeit bietet, sich von allen Regeln, Gewissensbissen und Verurteilungen frei zu halten. Ich stelle mir diesen Raum wie eine Dunkelkammer vor. Das klingt jetzt gleich wieder so verrucht . . . Aber wir wissen ja, dass auch im Alltag viel Verbotenes gelebt wird – politisch, am Stammtisch, im sexuellen Gewerbe. Das zeigt, dass diese Bedürfnisse existieren. Moral ist jedenfalls der falsche Beweggrund, um Literatur zu verurteilen oder zu korrigieren.

Warum?

Weil Moral subjektiv ist. Weil sie die Vielfalt in unseren Gesellschaften ignoriert, wo es divergierende Auffassungen gibt.

Altphilologin und streitbare Literaturwissenschafterin

PD

Melanie Möller

Melanie Möller ist Professorin für Klassische Philologie an der Freien Universität Berlin. Sie hat Bücher zu Cicero, Ovid, Homer und zur Rhetorik veröffentlicht und schreibt auch für ein breites Publikum. Kürzlich erschien ihre Streitschrift «Der entmündigte Leser. Für die Freiheit der Literatur» (Galiani 2024, 238 S., um Fr. 36.–). Darin liest Möller umstrittene Texte neu und verbindet ältere und neuere Werke, etwa Vergil mit Heinrich von Kleist und Euripides mit Annie Ernaux. (läu.)

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