Mittwoch, Oktober 9


BuchEmpfehlung

In «Freiheit, Rausch & schwarze Katzen» geht der Historiker Andreas Schwab dem Leben der Bohème mit flaneurhaften Beschreibungen auf den Grund.

Am 2. Mai 1893 heirateten Frida Uhl und August Strindberg. Sie hatten sich im Berliner Künstlerkreis um das «Schwarze Ferkel» kennengelernt. In einem letzten Versuch hatte sie ihr Vater vor dem fast doppelt so alten und geschiedenen Schriftsteller gewarnt. Er befürchtete ein Abgleiten in die Künstlerbohème. Diese Szene wählt Andreas Schwab als Einstieg für sein eben erschienenes Buch «Freiheit, Rausch & schwarze Katzen».

Der Berner Historiker Schwab kann erzählen: Anschaulich schildert er die Cafés und Kneipen, in denen sich die Bohème Ende des 19. Jahrhunderts traf, vom «Schwarzen Ferkel» und dem «Café Bauer» in Berlin über das «Chat Noir» auf dem Montmartre bis zum «Café Stefanie» und zum Cabaret «Die elf Scharfrichter» in München. 1896 wurde die Oper «La Bohème» von Giacomo Puccini uraufgeführt, sie nährt bis heute den Mythos der Bohème.

Auf der Suche nach radikaler Individualität

Schwab geht es in seinem Buch jedoch um mehr als die Beschreibung der Mansardenromantik hungerleidender Dichter und ihrer Musen. Seine These lautet: «Künstlerinnen und Künstler mussten sich Ende des 19. Jahrhunderts von ihren aristokratischen Gönnern emanzipieren und waren auf einmal gezwungen, ihr Leben selbstbestimmt auszurichten.» Er beschreibt, wie seine Protagonisten neue Lebensmodelle und eine radikale Individualität zu leben versuchten.

Vorstellungen vom modernen Menschen nahmen sie vorweg, Vorstellungen, die bis heute aktuell sind. Die Anonymität der neuen Grossstädte lieferte dafür einen idealen Hintergrund. Berlin war zu Theodor Fontanes Zeit ein ländlich geprägter Ort; dann explodierte die Bevölkerungszahl auf 826 000 im Jahr 1871; nur zwanzig Jahre später lebten 1,5 Millionen und 1900 mehr als 2,4 Millionen Menschen in der deutschen Hauptstadt.

Skandinavische Künstler aus der Bohèmeszene stehen im Zentrum

Schwab lässt bekannte und weniger bekannte Mitglieder der damaligen Bohèmeszene auftreten: Else Lasker-Schüler, Richard Dehmel, Edvard Munch, Oda Krohg oder Franz Wedekind. Die skandinavischen Künstler und Künstlerinnen spielen im Buch eine besondere Rolle, allen voran das Ehepaar Strindberg: Bereits ein Jahr nach der Hochzeit war die Ehe zerrüttet, zwei Jahre später geschieden. August Strindberg ertrug es nicht, dass seine Frau Frida eigene Ambitionen als Journalistin und Schriftstellerin verfolgte.

Frida Strindberg-Uhl war ständig zwischen den Metropolen unterwegs. Aus Paris schrieb sie an ihre Schwester: «Oh, wie hier das Leben schäumt! Voll Rausch, voll Süsse, geistiges und vergeistigtes Geniessen mit aller Sinneskraft und Glut.»

Von Paris zog sie nach München ins Bohèmeviertel Schwabing, wo sie sich auf eine kurze Affäre mit dem Dramatiker Frank Wedekind einliess. Auch diese Beziehung zerbrach schnell, noch bevor der gemeinsame Sohn auf die Welt kam. Als alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern von zwei berühmten Schriftstellern war Frida Strindberg-Uhl völlig auf sich allein gestellt.

Im Norden wurden schon früh die Normen der Ehe hinterfragt

Am Beispiel der norwegischen Malerin Oda Krohg und der Pianistin Dagny Juel schildert Schwab selbstbewusstes, emanzipiertes Auftreten und ein Liebesleben, das viele Romane in den Schatten stellte. «Dass gerade die Skandinavierinnen hier Vorreiterinnen sind, ist kein Zufall», so Schwab. Im Norden führte antiklerikales Denken viel früher zum Bruch mit der bürgerlichen Ordnung und den Normen der Ehe.

Zum Ausdruck kommt das auch in Edvard Munchs aquarellierter Zeichnung «Kristiania-Bohème II» von 1895. Sie zeigt Oda Krohg in einem roten Kleid an der Stirnseite eines Tisches. Sie stemmt die Hände in die Hüften und lässt ihren Blick über die sechs Tischgenossen gleiten, ihre beiden Ehemänner, ihre drei Liebhaber sowie den Maler Munch selbst.

Das Leben der skandinavischen Künstlerinnen war aber nicht nur selbstbestimmt, viele zerbrachen an den brachialen Egoismen in der männlichen Künstlerwelt und endeten in unglücklichen Ehen. Ihre Werke gerieten in Vergessenheit. Die Geschichte der Bohémiens und der Bohémiennes bringt der Autor, der auch als Ausstellungsmacher arbeitet, immer wieder exemplarisch auf den Punkt.

Ein unterhaltsames und intelligentes Sachbuch

«Freiheit, Rausch & schwarze Katzen» ist ein gutes Beispiel für ein erzählendes Sachbuch, unterhaltend und intelligent, ganz in der Tradition der Sachprosa im englischen und skandinavischen Sprachraum. Bereits in seinem früheren Buch «Zeit der Aussteiger. Eine Reise zu den Künstlerkolonien von Barbizon bis Monte Verità» fand der Autor eine eigene Art des Erzählens, die er als «flaneurhafte Beschreibung» bezeichnet.

Elf Künstler und Künstlerinnen geben sich die Hand, in einer Art Reigen nach dem Vorbild von Arthur Schnitzlers gleichnamigem Theaterstück, und führen von einer Kolonie zur anderen. Leserinnen und Leser reisen so vom Département Finistère an der bretonischen Küste nach Skagen an der Nordspitze von Jütland, nach Capri, Taormina und Tanger. «Die Zeit der Aussteiger» zeigte, wie Künstler und Künstlerinnen zwischen 1830 und dem Anfang des 20. Jahrhunderts in diesen Kolonien abseits der grossen Ballungszentren nach neuen Ausdrucks- und Lebensformen suchten.

Im neuen Buch fokussiert Schwab nun auf Berlin, Paris und München im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. Denn die künstlerischen Aufbrüche und die Suche nach neuen Lebensformen fanden ebenso in den Grossstädten statt.

Dieser Artikel stammt aus der NZZaS-Beilage «Bücher am Sonntag».

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