Freitag, September 27

CEO Michael Sen hat in seinen ersten zwei Jahren erfolgreich aufgeräumt. Die Bewertung ist trotz des Kursaufschwungs noch günstig. Die Goldgräberzeit von Ulf Mark Schneider scheint allerdings für immer vorbei.

Womöglich wird das zweite Quartal 2024 in der Rückschau als das in der Fresenius-Geschichte betrachtet werden, in dem der kriselnde Gesundheitskonzern die Kurve gekriegt hat. Nach der Ergebnispräsentation Ende Juli stimmten Analysen einen ungewöhnlichen Chor des Frohlockens an. «Sehr starkes zweites Quartal» titelte UBS. Einen «hervorragenden Auftritt in Q2» sah Berenberg.

Mitte September reihte sich sogar der skeptische JPMorgan-Analyst David Adlington ein: Die Medizin beginne zu wirken. Er stufte die Aktien auf «Overweight», nach vielen Jahren «neutraler» Einschätzung: «Das Management hat begonnen zu liefern, wir sehen einen Turnaround im unterliegenden Geschäft.» Adlington leitet bei JPMorgan seit über zwei Jahrzehnten die europäische Aktienanalyse zu Medizintechnik.

Der Aktienkurs von Fresenius steigt seit einem halben Jahr deutlich kräftiger als der Dax. Im «Momentum Screen» von The Market für Aktien mit dem stärksten Kursmomentum belegt das Unternehmen damit Platz sechs im deutschen Leitindex.

Der Aufschwung könnte noch eine Weile dauern. Vorstandschef Michael Sen hat seine Strategie in mehrere Phasen unterteilt. Er verspricht, nach dem «Reset», einem Neustart, und «Rejuvenate», einer Verjüngung, nun das «Potenzial auszuschöpfen». Auf der Hauptversammlung im Mai sagte er, das Vertrauen komme langsam zurück: «Diese Entwicklung nach oben wollen wir durch verlässlich gute Leistungen fortschreiben.»

JPMorgan kalkuliert unter pessimistischen Annahmen inklusive eines zehnprozentigen Konglomeratsabschlags ein Kursziel von 37.50 €. Bei optimistischeren Annahmen errechnen sich mindestens 45.50 €. Berenberg bekräftigte Mitte September, man sehe «weiteren Spielraum für eine Neubewertung».

Seit Sen am 1. Oktober 2022 an die Fresenius-Spitze aufstieg, haben die Aktien immerhin so stark wie der Dax angezogen. Für Fresenius‘ wichtigste Aktionärin, die Else Kröner-Fresenius-Stiftung, ist dies ein grosser Erfolg. Zuvor war der Kurs fünf Jahre lang gefallen.

Ulf Mark Schneiders Kartenhaus

Einst, unter der Führung von Ulf Mark Schneider von 2003 bis 2016, wurde das Gesundheitsunternehmen aus Bad Homburg zum Highflyer an der Börse. Durch schuldenfinanzierte Akquisitionen pumpte Schneider Fresenius zu einem der grössten Gesundheitskonzerne Europas mit viermal so viel Umsatz wie zuvor auf, insbesondere durch den Aufkauf von hoch profitablen Dialyseanbietern in den USA. Schneider stieg dann zum Chef von Nestlé auf (wo er kürzlich ausschied).

In den Folgejahren kippte das Geschäftsmodell: Erst setzten sinkende Erstattungssätze in den USA der Dialysetochter Fresenius Medical Care (FMC) zu, dann traf die Pandemie das Geschäft durch eine hohe Übersterblichkeit von Coronapatienten, steigende Kosten und Pflegekräftemangel. Dies alles trug FMC und damit auch deren Mutter Fresenius eine Gewinnwarnung nach der andern ein. Schneiders Nachfolger Stephan Sturm fand kein Rezept gegen die Krise, weshalb die Stiftung im Sommer 2022 Sturms Ablösung betrieb.

Damals schrieben Investoren Fresenius als nicht vertrauenswürdig und überkomplex ab. Der Ex-Siemens-Manager Sen, zuvor Chef der wichtigsten Sparte Fresenius Kabi, übernahm also ein schwieriges Erbe: ein Sammelsurium an Geschäften mit 37 Mrd. € Umsatz und mehr als 26 Mrd. € Nettoverschuldung. Neben dem Schuldenberg lähmten komplexe Entscheidungsstrukturen infolge der vielen Verflechtungen das Unternehmen.

Die schwierige Entflechtung

Fresenius war quasi eine doppelte Schachtel, da Mutter und Tochter als Kommanditgesellschaft auf Aktien fungierten. Die Stiftung kontrolliert (bis heute) Fresenius voll, trotz des Aktienanteils von nur 27%. Fresenius wiederum beherrschte bei nur 32% Beteiligung an FMC diese komplett – und konsolidierte sie vollständig. Solange FMC erfolgreich war, trieb die Struktur Gewinn und Aktienkurs. In der Krise vergrösserte sie die Schwierigkeiten.

Sens grösste Leistung bislang war wohl, die Stiftung vom Aufbrechen dieser Struktur zu überzeugen. Dass im Oktober 2022 der Einstieg des aktivistischen Hedge Funds Elliott bekannt wurde, verschaffte ihm Rückenwind. Per November 2023 gelang die Umwandlung von FMC in eine Aktiengesellschaft. Damit wird die Problemtochter, die einst für 47% des Fresenius-Umsatzes stand, als Finanzbeteiligung geführt und gemäss dem 32%-Anteil konsolidiert.

Das zweite Problem-Asset, den defizitären österreichischen Klinikdienstleister Vamed (77% Fresenius-Anteil, 5% des Konzernumsatzes), wollte Sen verkaufen. Mangels Interessenten entschied er sich für eine Verwertung in Einzelteilen, die inzwischen zu einem grossen Teil abgeschlossen ist.

Die Aufräumarbeiten kosteten Fresenius viel Geld: Durch milliardenschwere, nicht zahlungswirksame Sonderlasten infolge der FMC-Dekonsolidierung wies Fresenius 2023 einen Nettoverlust von 594 Mio. € aus. Die Abwicklung von Vamed, über die der Fresenius-Doyen Gerd Krick jahrzehntelang seine Hand hielt, wird alles in allem fast 1 Mrd. € in Anspruch nehmen. Das verdarb bis zuletzt die operativ unerwartet guten Geschäftszahlen: Unter dem Strich wies Fresenius für das zweite Quartal 2024 einen Verlust von 373 Mio. € aus.

Unsentimentaler Sanierer

Wie unsentimental Sen die Sanierung vorantrieb, zeigt sich auch an seiner Dividendenpolitik. Um staatliche Energiehilfen mehr als 300 Mio. € nicht zurückzahlen zu müssen, liess er die Dividende für 2023 ausfallen – das erste Mal in Fresenius‘ Börsengeschichte. Im Jahr zuvor gab er Fresenius‘ Status als Dividendenaristokrat auf, der 29 Jahre lang die Ausschüttung jährlich erhöht hatte. Künftig solle Fresenius aber wieder eine «attraktive Dividendenrendite» bieten, verspricht er.

Durch die nur noch anteilige Konsolidierung der zuvor vollkonsolidierten FMC schrumpft Fresenius erst einmal gewaltig.

Fresenius verzwergt sich selbst

Zugleich konnten die zwei verbleibende Kerngeschäfte, die Medikamentensparte Kabi und der Klinikkonzern Helios, die Prognosen bisher stets erfüllen oder sogar leicht anheben. «Das zweite Quartal war das vierte Quartal in Folge, in dem die Ergebnisse die Erwartungen übertrafen», konstatiert JPMorgan-Analyst Adlington. Fresenius‘ Umsatz vor Sondereinflüssen wuchs im zweiten Quartal um 6% auf 5,4 Mrd. €, das Betriebsergebnis (Ebit) um 16% auf 660 Mio. €.

Fresenius bestätigte den Ausblick auf das Gesamtjahr und will nun beim Wachstum des währungsbereinigten Ebit die obere Hälfte der gesetzten Spanne von 6 bis 10% erreichen, bei einem organischen Umsatzplus von 4 bis 7%. Das Ziel, die Kosten auf Ebit-Ebene um 400 Mio. € zu senken, zog Sen von 2025 auf Ende 2024 vor. Gut kam an der Börse auch an, dass die Nettoverschuldung im Verhältnis zum Ebitda per Juni auf 3,43 sank und damit innerhalb des für das Jahresende geplanten Zielkorridor von 3 bis 3,5 rangiert.

Die zwei künftigen Geschäftssäulen: Kabi und Helios

Die auf Kliniken ausgerichtete Medikamentensparte Kabi vereint ein jährlich um rund 3% leicht wachsendes Geschäft mit intravenös verabreichten Generika mit den drei Wachstumsfeldern klinische Ernährung, MedTech (Infusions- und Transfusionspumpen) sowie Biopharmazeutika. Kabi besticht hier zudem durch gute Marktpositionen: bei intravenösen Generika, bei parentaler Ernährung und Bluttransfusionen sieht sich Kabi weltweit als Nummer eins, bei Infusionen als grössten Anbieter in Europa. Jeder vierte Blutbeutel weltweit kommt von Kabi.

Bei Biopharmazeutika (Umsatz 2023: 0,4 Mrd. €) ist Kabi bisher ein sehr kleiner Spieler, wächst aber kräftig: Der Umsatz wurde im ersten Halbjahr 2024 mehr als verdoppelt und die Gewinnschwelle erreicht. Damit könne das Geschäft 2026 das obere Ende der selbst prognostizierten Umsatzspanne von 600 Mio. bis 800 Mio. € und kräftige Ebit-Sprünge schaffen, glauben die JPMorgan-Analysten. Kabis Turnaround gewinne Momentum – «auch wenn die Visibilität relativ gering bleibt». Kabis eigene Zielvorgabe ist, jährlich 4 bis 7% zu wachsen, bei 14 bis 17% Ebit-Marge.

Der Klinikkonzern Helios ist im fragmentierten, hoch reglementierten deutschen Klinikmarkt die Nummer eins mit mehr als 80 Kliniken und 6% Marktanteil. Der grössere Wachstums- und Hoffnungsträger ist die Tochter Quirónsalud, die mit 57 Kliniken in Spanien auf 12% Marktanteil kommt und höhere Margen verdient. Quirónsalud gilt als Vorreiterin der Digitalisierung von Krankenhäusern; diese Kompetenz sollen auch die deutschen Häuser stärker nutzen. Die Zielvorgabe: 4 bis 6% jährliches Wachstum bei 10 bis 12% Ebit-Marge.

Das Risiko Fresenius Medical Care

Das grösste Fragezeichen setzen Investoren allerdings hinter die 32%-Beteiligung an FMC. Geht es nach ihnen, sollte Sen das Paket so schnell wie möglich loswerden. Das Geschäft litt zuletzt unter dem verstärkten Einsatz des Diabetesmedikaments Ozempic von Novo Nordisk. Dadurch kamen weniger Patienten an die Dialyse. Ob Ozempic dauerhaft niedrigere Patientenzahlen für FMC bedeute, lasse sich nicht abschätzen, sagt David Schäfer, Fondsmanager von Union Investment. «Das kann noch Jahre dauern, bis darüber Klarheit herrscht.»

Der FMC-Aktienkurs hat seine Tiefstände zwar hinter sich gelassen, ist von früheren Hochs aber weit entfernt.

Analysten kalkulieren, dass sich ein FMC-Ausstieg womöglich nur mit kräftigen Abschlägen realisieren liesse. Zudem fiele damit der derzeit etwa fünfzehnprozentige Beitrag der Beteiligung zu Fresenius‘ Gewinn je Aktie weg. Selbst wenn Fresenius den Erlös – auf aktuellem Kursniveau 3,5 Mrd. € – zur Schuldentilgung nutzte, würde der Gewinn je Aktie erst einmal kräftig sinken.

Sen betont nur, die Beteiligung «werthaltig» entwickeln zu wollen. Offenbar hofft er auf einen Wiederaufstieg von FMC in den Dax, der den Kurs und damit auch seinen Verkaufserlös beflügeln könnte.

Überhöhte Verschuldung

Wegen der teuren Altlastenbeseitigung kam der Schuldenabbau bisher nur schleppend voran. «Die Verschuldung ist immer noch zu hoch für das aktuelle Marktumfeld», sagt Fondsmanager Schäfer.

Ein Vorteil ist immerhin, dass die verbliebenen Geschäfte weniger riskant sind. «Das Risiko-Ertrags-Verhältnis sieht heute wesentlich interessanter aus», konstatiert Adlington auch mit Verweis auf die Wachstumswende bei Kabi und das stabile Geschäft von Helios.

Bewertung immer noch günstig

Das Kurs-Gewinn-Verhältnis von 11 lässt Fresenius im historischen Vergleich billig erscheinen, relativ zum Zehnjahresdurchschnitt von 15. Wegen der hohen Verschuldung ist allerdings das Verhältnis von Unternehmenswert zu Ergebnis vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen (Ebitda) aussagekräftiger. Mit Bezug auf das für die nächsten zwölf Monate geschätzte Ebitda liegt der Wert mit 8,3 unter dem Zehnjahresschnitt, allerdings nicht so deutlich wie das Kurs-Gewinn-Verhältnis. Und zudem weit unter der Bewertung aller anderen europäischer Medtech-Unternehmen.

«Sen hat die Negativspirale hin zu einem positiven Newsflow gedreht und so begonnen, die Bewertungslücke zu schliessen», sagt Fondsmanager Schäfer. «Nach vorne kann auch das Geschäft mit Biosimilars Fantasie bringen.» Kabi verfüge über eine grosse Pipeline mit weiteren Medikamenten.

Fazit: Der Turnaround ist zwar teilweise im Kursaufschwung bereits reflektiert. Die Bewertung ist trotz der Fragezeichen hinter der FMC-Beteiligung und der hohen Verschuldung noch günstig. Für einen grösseren Kursschub bräuchte es allerdings wohl einen neuen Katalysator.

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