Donnerstag, November 28

Begonnen ist ein Krieg rasch. Beendet nicht. Und Frieden gibt es nur, wenn ein neues Gleichgewicht der Kräfte gefunden wird.

Die Kunst des Friedenschliessens ist den Kriegführenden schon im Ersten Weltkrieg verlorengegangen. Von dauernden Ordnungsprinzipien wie dem Selbstbestimmungsrecht der Völker war damals die Rede. Die Welt sollte für die Demokratie sicher gemacht werden. Das war der Anspruch. Die Pariser Vorortverträge 1919/1920 waren allerdings so mangelhaft, dass aus Nachkrieg bald Vorkrieg wurde. Knapp zwanzig Jahre später, im Sommer 1939, brach Hitler einen Krieg vom Zaun, der sich bald darauf zum Weltkrieg ausweiten sollte.

Paris 1919/1920 war der letzte der grossen europäischen Friedensschlüsse der Neuzeit. Er bildete den Schlusspunkt einer Entwicklung, die mit dem Frieden von Münster und Osnabrück (1648) begonnen hatte, in Utrecht (1713) sowie in Paris und Hubertusburg 1763 fortgesetzt wurde und in Wien 1815 Epoche gemacht hatte. In Paris 1919/1920 sassen die Sieger über die Besiegten zu Gericht. Die besiegten Feindstaaten konnten ihre Einwände lediglich schriftlich begründen und hinterlegen.

Die beiden Hauptprobleme der Konferenz, die deutsche und die russische Frage, blieben ungelöst. Auch 1945 ist kein gutes Beispiel für einen Friedensschluss. Schon lange vor Kriegsende hatte sich Hitler von der Politik verabschiedet. Frieden mit Britannien «auf der Basis der Teilung der Welt» war für ihn, wie er in seiner Reichstagsrede vom Juli 1940 ausführte, nur zu seinen, für alle anderen gänzlich inakzeptablen Bedingungen vorstellbar. Erst nach dem Selbstmord Hitlers waren Verhandlungen möglich.

Die Konferenz von Potsdam im August 1945 endete ohne völkerrechtlichen Vertrag mit einem Communiqué, bei dem nur mühsam der Dissens zwischen den Vereinigten Staaten, Grossbritannien und Russland camoufliert werden konnte. Der Streit über Reparationen, die Geschichte von millionenfacher Flucht und Vertreibung gehören zu den fatalen Folgen. Die Ordnung von Jalta (und Potsdam) zementierte für vier Jahrzehnte die Teilung der Welt in eine freie und eine unfreie Sphäre, ermöglichte die Sowjetisierung Ostmittel- und Osteuropas und brachte eine zerbrechliche Pax atomica: Friede war so unmöglich, wie Krieg unwahrscheinlich geworden war.

Gleichgewicht der Macht

Wenn wir in der Geschichte weiter zurückgehen, bietet der von Britannien vermittelte Friede von Utrecht (1713) die besten Anhaltspunkte für die Kunst des Friedenschliessens. England war dabei ein nicht uneigennütziger Vermittler. Noch in der Mitte des 17. Jahrhunderts war die Insel eine Welt für sich. Erst als infolge der Glorious Revolution 1689 Wilhelm III. von Oranien, der erbittertste Gegner Ludwigs XIV., den englischen Thron bestieg, erwuchs dem Sonnenkönig ein echter Gegenspieler.

Utrecht schuf die Voraussetzung für das grosse Jahrhundert Englands, für dessen Rolle als Schiedsrichter Europas. Der Friede von Utrecht schrieb auch das Prinzip der «Balance of Power» zum ersten Mal in einem völkerrechtlichen Vertrag als Grundsatz fest. Grossbritannien erhielt damals unter anderem Gibraltar, Ceuta, Oran. Der Sonnenkönig musste darauf verzichten, den Thronprätendenten aus dem Haus Stuart zu unterstützen.

Die nächste Erschütterung ging knapp dreissig Jahr später von einem Parvenu aus. Friedrich II. von Preussen kam ohne Kriegserklärung aus, als er 1740 Maria Theresia herausforderte und seine Truppen in Sachsen einmarschieren liess. Er vertrat den Standpunkt, dass man die Schwächen der anderen ausnutzen sollte, setzte auf Angriff und hielt nichts von Vorsicht auf dem Schlachtfeld. Schwere Verluste im August 1759, der überstürzte Rückzug über die Oder und totale Erschöpfung liessen Preussens Lage mehrmals fast aussichtslos erscheinen.

Auch im Siebenjährigen Krieg kämpfte der Preussenkönig mit dem Rücken zur Wand. Dem britischen Bundesgenossen war die Kräfteverlagerung auf den nordamerikanischen Kriegsschauplatz und das Vordringen der britischen Flotte im Ohio-Tal entlang des Hudson River wichtiger als die Waffenbrüderschaft mit dem Preussenkönig. Friedrich reflektierte darüber, «dass Tapferkeit ohne Klugheit nichts ist und dass ein berechnender Kopf auf die Dauer über tollkühne Verwegenheit siegt».

Frieden aus Erschöpfung

Der Siebenjährige Krieg war auch ein Erschöpfungskrieg. Erst der unerwartete Tod der Zarin Elisabeth im Januar 1762 und die Thronbesteigung von Peter III., einem glühenden Bewunderer des Preussenkönigs, änderte die Situation. Peters Gattin und Nachfolgerin Katharina blieb es vorbehalten, den von Preussen ersehnten Waffenstillstand im Mai 1763 zu schliessen. Russland hatte sich von Österreich gelöst. Der auf sächsische Vermittlung hin auf dem Jagdschloss Hubertusburg 1763 geschlossene Vertrag war ein Erschöpfungsfrieden auf der Basis des bestehenden Zustands.

Der Wiener Kongress 1815 beendete die napoleonischen Kriege und versuchte, so gut es ging, die Konsequenzen der Französischen Revolution zurückzubuchstabieren. Seine Prinzipien waren Legitimität, Gleichgewichtsdenken und Konvenienz. Er setzte auf die Vernunft der Nationen und leitete ein europäisches Zeitalter ein.

Metternichs Taktieren zwischen 1809 und 1812, dem Jahr der Katastrophe von Napoleons Russlandfeldzug, war vollendete Strategie, die Staatskunst und Kriegshandwerk miteinander verband. Letztlich waren es auch diese Züge, die den grossen Korsen zu Fall brachten. Bismarck wurde dann der eigentliche Überwinder des Metternichschen Systems. Seine duellartigen Reichseinigungskriege 1864, 1866 und 1870/1871 waren das Gegenteil eines «Long War». Alles war kalkuliert und einem politischen Ziel untergeordnet.

Ein wiederkehrendes Grundproblem des Friedenschliessens sind die Festlegung von Grenzen, die Internationalisierung von Konflikten und die Vermeidung von Zonen unterschiedlicher Sicherheit. Die Ordnung von Paris 1919 scheiterte an zu hohen Ansprüchen, inneren Widersprüchen und unbewältigten Gegensätzen. Das zweite grosse Fehlkalkül, das den Niedergang von Ordnungsversuchen beschleunigt, ist das Unterschätzen der Macht der Psychologie.

Der Aufstand der Nazis in Wien

Die Geschichte der Weimarer Republik wäre ohne die Hypothek von Versailles und die Instrumentalisierung der Friedensbestimmungen in der innenpolitischen Auseinandersetzung vermutlich anders verlaufen. Die Instrumente der Schiedsgerichtsbarkeit und der Konfliktverhütung im internationalen System waren damals zu schwach ausgebildet.

Kriege hat es in der Geschichte seit je gegeben. Nicht immer allerdings ist die Trennung zwischen Krieg und Frieden messerscharf vorzunehmen. Immer wieder ist es zum «Krieg im Frieden» gekommen, genauer gesagt zu Kriegshandlungen, die in Friedenszeiten zur Durchsetzung von strategischen Zielen genutzt wurden.

Putins Besetzung der Krim und der Ostukraine 2014 fällt in diese Kategorie, ebenso das russische Vorgehen in Abchasien, Südossetien oder Tschetschenien. Die Nationalsozialisten haben es von 1933 bis 1938 vorgemacht: etwa mit dem nationalsozialistischen Aufstand in Wien, der 1934 zur Ermordung von Bundeskanzler Engelbert Dollfuss führte.

Der französische Philosoph Raymond Aron hat einst drei Typen des Friedens unterschieden: Gleichgewicht, Hegemonie, Imperium. Echter Friede ist immer mehr als die Abwesenheit von Krieg. Russlands Machtstreben macht jeden Kompromiss in der Ukraine-Frage zu einem zerbrechlichen Frieden. In dem Masse, wie die amerikanische Macht nicht mehr auf die Durchsetzung der militärischen Machtmittel zur Garantie des Friedens setzen kann, gelten für den Weltfrieden neue Massstäbe.

Gefahr eines Angriffs mit Nuklearwaffen

Die Geschichte der beiden Weltkriege lehrt zudem, dass Kriegsziele, die während der Kampfhandlungen formuliert werden, fast nie mit den Bedingungen identisch sind, die nach der gegenseitigen Erschöpfung zum Waffenstillstand überleiten. Die Frage des Überlebens des eigenen politischen Regimes ist für Putin wie für Selenski entscheidend. Die Bipolarität der Nachkriegszeit war weltumspannend. Je länger der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine andauert, desto grösser ist die Gefahr, dass sich die neue geopolitische Konstellation in anderen Teilen der Welt dauerhaft festsetzt.

Die Rolle der Diplomatie muss sich in den einzelnen Phasen von Krisen und Kriegen verändern. Mediation gehört im Völkerrecht zu den Guten Diensten und braucht Augenmass. Das Scheitern der Friedensbemühungen von Papst Benedikt XV. im Ersten Weltkrieg ist ein Beispiel dafür, dass gut gemeint nicht immer gut sein muss. Auch der «ehrliche Makler», den Bismarck 1878 auf dem Berliner Kongress zu sein vorgab, kommt nie ganz ohne eigennützige Ziele aus.

Die Weltkonstellation unserer Tage, die Gefahr einer Eskalation bis an die Schwelle des Einsatzes von Nuklearwaffen, erfordert Diplomatie und die Vernunft der Nationen. Sie verlangt auch eine neue Friedensethik. Nur wenn es gelingt, ein neues Gleichgewicht der Kräfte zu finden und Kompromisse in Form von Schiedssprüchen und Mandatsgebieten festzulegen, lässt sich Vertrauen wiederherstellen. Und nur so wird die Welt dem Inferno entkommen.

Ulrich Schlie ist Historiker und Henry-Kissinger-Professor für Sicherheits- und Strategieforschung an der Universität Bonn.

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