Montag, September 30

Der Mann, der in Zürich eine Synagoge anzünden wollte, galt als psychisch verwirrt. Damit ist er aber eine Ausnahme.

Es ist eine Aussage, welche die Öffentlichkeit ratlos zurücklassen kann, gerade auch, weil sie wie eine unangebrachte Entschuldigung verstanden werden kann: Bei Attacken und Amokfahrten heisst es mitunter, der Täter sei psychisch gestört gewesen. Auch der Mann, der vor einigen Wochen in Zürich Benzin vor einer Synagoge ausgeleert hatte und das Gotteshaus anzünden wollte, war laut Polizei verwirrt.

In der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich beschäftigt sich die forensische Psychiatrie und Psychotherapie mit solchen Tätern – und mit ihren Symptomen. Friederike Höfer ist forensische Psychiaterin und stellvertretende Chefärztin des Zentrums für Ambulante Forensische Therapie.

Frau Höfer, ein Mann hat in Zürich versucht, eine Synagoge in Brand zu stecken. Er wurde verhaftet, die Polizei bezeichnete die Person als «psychisch auffällig». Was heisst das eigentlich?

Das ist eine gute Frage! Zum konkreten Fall kann ich mich nicht äussern, aber Polizisten sind sehr gut geschult, um ein Verhalten zu erkennen, das von der Norm abweicht, zum Beispiel psychomotorische Auffälligkeiten oder eine übermässige Reizbarkeit und Anspannung. Nicht selten stellen die Expertinnen und Experten dann eine Psychose fest, also einen Zustand, in dem der Realitätsbezug verlorengeht und jemand unter Wahnvorstellungen und Halluzinationen leidet.

Die Stiftung gegen Rassismus mahnte, man mache es sich zu einfach, wenn man den Täter einfach als unzurechnungsfähig abtue.

Das sehe ich grundsätzlich gleich. Es wäre fatal, wenn wir politisch motivierte Angriffe immer nur als Taten von Verwirrten sehen würden. Genauso wichtig ist aber, dass wir Taten, die tatsächlich einen krankhaften Hintergrund haben, als solche erkennen und benennen.

In Zürich gab es in den letzten Monaten eine Häufung von Angriffen mit einem antisemitischen Hintergrund – ein orthodoxer Jude wurde niedergestochen, es gab Farbanschläge auf jüdische Galerien, dann die erwähnte versuchte Brandstiftung. Wie erklären Sie sich das als forensische Psychiaterin?

Auch hier kann ich nicht über die Einzelfälle sprechen. Grundsätzlich erleben wir es aber häufig, dass Menschen mit Psychosen oder mit schizophrenen Störungen etwas aufgreifen und auf etwas reagieren, was gesellschaftspolitisch gerade passiert.

Was wir alle ja auch tun.

Ganz genau. Psychotiker beschäftigen sich aber in einer übermässigen Art damit. Sie bauen Themen wie den Nahostkonflikt oder den Krieg in der Ukraine in ihre Wahngedanken ein, allerdings verzerrt. Es entstehen komplexe und, aus der Sicht der Forschung, sehr interessante Strukturen. Die Urteilsfähigkeit entkoppelt sich von der Wahrnehmung der Realität. In der Folge begehen diese Personen vielleicht bizarre Taten, die auf den ersten Blick politisch motiviert anmuten, die aber letztlich doch einer wahnhaften Verarbeitung einer Situation entspringen.

Wer von solchen Taten betroffen ist, dürfte sich weniger für die medizinischen Hintergründe interessieren. Er oder sie will einfach, dass es nicht mehr passiert. Haben Sie Verständnis dafür?

Selbstverständlich. Unser Beitrag an die Sicherheit der Bevölkerung liegt darin, herauszufiltern, ob eine Person aufgrund einer, wie wir sagen, normalpsychologisch erklärbaren Ideologisierung oder aufgrund einer psychischen Veränderung gefährlich ist. Und wenn die psychische Veränderung mit Gefährlichkeit einhergeht, dann benennen wir das auch – und skizzieren Behandlungsmöglichkeiten, die im Extremfall bis zum Entzug der Person aus der Gesellschaft reichen können.

Ab welchem Punkt wird aus einem etwas schrulligen Verhalten eine psychische Erkrankung?

Es ist ein Kontinuum. Bei schizophrenen Störungen sehen wir zum Beispiel in der Pubertät Frühwarnsymptome wie einen sozialen Rückzug.

Für Teenager ist das aber kein ungewöhnliches Verhalten.

Absolut, und das heisst für sich genommen auch nichts. Sehr oft erkennen wir aber rückblickend, dass gewisse Anzeichen vorhanden waren, die auf eine Erkrankung hingewiesen hatten. Irgendwann wird der Rubikon überschritten. Und das bemerken dann auch Laien, etwa Polizisten, die eine Person als psychisch auffällig bezeichnen.

Es fällt auf, dass viele extremistische Täter sehr jung sind. Der mutmassliche Täter beim Angriff auf einen orthodoxen Juden im März in Zürich war erst 15 Jahre alt. Zwei Jugendliche, die einen Anschlag auf die Pride geplant haben sollen, waren 17 und 14 Jahre alt. Auch die Bundesanwaltschaft und der Schweizer Geheimdienst haben auf das junge Alter von Extremisten hingewiesen. Was ist mit unserer Jugend los?

Für Jugendliche ist es besonders einfach, sich in eine gewisse ideologische Richtung zu radikalisieren. Wir wissen aus Studien, dass gerade jihadistische Organisationen dazu tendieren, an vulnerable Personengruppen zu appellieren, und überdurchschnittlich viele islamistische Täter tatsächlich eine psychische Störung aufgewiesen haben. Es wird bewusst nach Personen gesucht, die sich leicht beeinflussen lassen und die sich mit gewissen Männlichkeitsidealen oder martialischen Attitüden identifizieren können. Dies vielleicht auch aus einer Unsicherheit und einem mangelnden Selbstwertgefühl heraus.

Und diese jungen Menschen müssen nicht mehr in ein Camp im Nahen Osten reisen, um indoktriniert zu werden. Es reicht ein Mobiltelefon.

Die Verführbarkeit ist durch das Internet und Plattformen wie Tiktok tatsächlich sehr viel unmittelbarer geworden. Die Wege sind kürzer, die Radikalisierung verläuft viel schneller und kann vom Umfeld weniger erkannt werden.

Sie deuteten an, dass nicht jeder Extremist psychisch gestört sei. Dieser Gedanke ist schwer zu ertragen, wenn man an Attacken denkt, bei denen Terroristen Flugzeuge in Wolkenkratzer oder Lastwagen in Menschenmengen steuern oder mit Messern wahllos auf Menschen einstechen, wie jüngst in Solingen. Das ist doch wortwörtlich krank.

Eine solche Pathologisierung des Bösen ist eine sehr häufige Reaktion auf schwerste Straftaten, was emotional auch gut nachvollziehbar ist. Menschen möchten nicht, dass andere Menschen sich so verhalten. Tatsächlich ist es aber so, dass eine grosse Zahl an sehr problematischen Straftaten aus forensisch-psychiatrischer Sicht nicht auffällig ist.

Solche Täter handeln innerhalb ihres Wertesystems rational?

Sie begehen ihre Tat vielleicht aus einem übertriebenen Männlichkeitsideal heraus, andere handeln aus Eifersucht oder schlicht aus Dummheit. Längstens nicht alle Gewalttäter und Extremisten sind krank. Als Gesellschaft müssen wir das aushalten, auch wenn es schwierig ist.

Was kann die forensische Psychiatrie bei jungen, psychisch kranken Straftätern erreichen? Können sie therapiert werden?

Wir sollten es zumindest immer versuchen! Sie haben diese Chance verdient. Nur in sehr wenigen Fällen sprechen zwingende Gründe dagegen. Gerade ideologische Irrwege in der Jugend können durch Reifungsprozesse und mit Unterstützung angegangen werden.

Kommt eine Therapie bei Erwachsenen manchmal zu spät?

Es gibt Straftäter, die sich erst gegen ihr Lebensende radikalisieren, etwa Querulanten, die dann Wege einschlagen, die etwas Unaufhaltbares mit sich bringen. Bei ihnen kann eine Intervention schwierig werden.

Also einfach wegsperren?

Manchmal bleibt kein anderes Mittel. Aber das würde ich bei einem Fünfzehnjährigen anders einschätzen. Da ist noch viel mehr im Fluss, die Entwicklung der Persönlichkeit ist noch nicht abgeschlossen. Die Schweiz kennt Massnahmen für junge Erwachsene, welche auf diese Nachreifung hinzielen, und das ist ein guter Ansatz.

In der Schweiz gibt es Anlaufstellen, an die sich besorgte Lehrer oder Eltern wenden können, wenn sie eine Radikalisierung vermuten. Funktioniert dieses System?

Ja, es gibt sehr gute Instrumente, in Zürich etwa Gewaltschutzprojekte, bei denen die forensische Psychiatrie und die Kantonspolizei zusammenarbeiten. Wir versuchen, schon vor einer rechtlich relevanten Tat zu intervenieren, etwa indem Gefährder angesprochen werden oder mit Kursen, welche die Impulskontrolle oder Einstellungen zu Gewalt verbessern sollen. Da wird schon sehr viel getan.

Muss man wirklich bei jeder kleinen Auffälligkeit aktiv werden?

Wir müssen sicher darauf achten, dass nicht jedes störende Verhalten gleich pathologisiert wird. Die Toleranz hat in der Gesellschaft abgenommen. Wie früh man auffällige, aber integrationswillige Jugendliche aus ihrem gewohnten Umfeld entfernen soll, das muss abwägend besprochen werden. Denn der Kontakt zu psychisch unauffälligen Altersgenossen ist etwas ganz Wichtiges.

Bei welchen Verhaltensweisen von Jugendlichen sollten Lehrer und Eltern aufhorchen?

Wenn sie den Eindruck bekommen, dass sie den Kontakt verlieren. Wenn sich die Jugendlichen zurückziehen, ihr Leben nur noch im Digitalen stattfindet, wenn Spezialinteressen entstehen, die mit Gewaltphantasien zu tun haben, etwa eine übertriebene Faszination für den Zweiten Weltkrieg oder für Waffen. Für Lehrerinnen und Lehrer ist das schwieriger zu erkennen, weil sie nicht nur mit einem oder zwei Kindern zu tun haben, sondern mit 25. Aber auch sie sollten reagieren, wenn jemand Messer in die Schule mitbringt oder ostentativ Ideologien auf T-Shirts zur Schau stellt. Da sollten sie zumindest nachfragen.

Es gibt unglaublich realistische, sehr blutige Computerspiele, in die man mit 3-D-Brillen richtiggehend eintauchen kann. Man kann Monster, aber auch Menschen mit der Schrotflinte erschiessen oder mit der Kettensäge entzweischneiden. Wie wirkt sich diese extreme Gewalt auf Jugendliche aus, die tagelang solche Spiele spielen?

Dazu existieren in der Forschung grob gesagt zwei Haltungen. Die eine Seite befürchtet, dass Ego-Shooter die Gewalt fördern und eine Übertragung in die Realität begünstigen. Die andere Seite hofft, dass die Spiele im Gegenteil den Abbau von Aggressionen fördern und somit sogar einen positiven Effekt aufweisen. Die Datenlage ist komplex. Wir wissen, dass viele Täter von Schul-Schiessereien solche Spiele gespielt hatten. Gleichzeitig wissen wir aber auch, dass es sehr, sehr viele jugendliche Spieler gibt, die das Gezeigte nie in die Realität übertragen haben. Eine eindeutige Kausalität lässt sich also nicht ableiten.

Viele jugendliche Straftäter und Extremisten sind männlich. Warum?

Es gibt tatsächlich eine Gender-Unwucht in der Forensik. Wir haben zu 90 Prozent mit Knaben und Männern zu tun. Wahrscheinlich gibt es dafür mehrere Gründe, die Erziehung, den höheren Testosteronspiegel und damit verbunden eine Neigung zu aggressiven Verhaltensweisen.

Auch Mädchen und Frauen sind nicht nur harmlos. Es gab Schülerinnen, die nach Syrien reisten, um sich der Terrorgruppe Islamischer Staat anzuschliessen.

Frauen können genauso radikalisiert werden wie Männer. Allerdings stellten wir gerade bei den sehr jungen weiblichen IS-Reisenden fest, dass sie in eine Rolle gedrängt wurden, die sie für sich nicht antizipiert hatten. Nicht wenige wollten ja schnellstens wieder zurückkehren, als sie erkannten, in welche Situation sie da geraten waren.

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