Sonntag, September 29

Das Wiener Literaturmuseum präsentiert in der Ausstellung «ich denke in langsamen Blitzen» den Nachlass der Schriftstellerin, die zeitlebens exzessiv Objekte sammelte. Sie entpuppen sich selbst als Kunstwerk.

Am Ende war die eigene Existenz überwuchert vom Werk. Zettel, Zeichnungen und zu poetischen Wesen deklarierte Gegenstände türmten sich in der Wohnung Friederike Mayröckers in der Wiener Zentagasse. Mittendrin die Dichterin, immer weiterschreibend. Frühmorgens und auch nachts. Manchmal ging das Geschriebene übers Papier hinaus. Dann setzte sich die Weltbeschriftung unbemerkt auf den Laken des eigenen Bettes fort.

2021 ist Friederike Mayröcker in hohem Alter gestorben, und ihr Nachlass ist ein wahres Gebirge aus Kunst. In 450 grossen Kartons sind die Dinge aufbewahrt, die sich heute im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek befinden. Die Ausstellung im Wiener Literaturmuseum, «‹ich denke in langsamen Blitzen› – Friederike Mayröcker. Jahrhundertdichterin», packt jetzt diese Kisten aus. Sie zeigt das, was die Poetin «ein Pflanzenleben» genannt hat, und ein Schreiben voller «obstinater Knallheiten».

Das schattenhafte Leben

Auf mehreren Regalmetern stehen die kleinen Reiseschreibmaschinen, mit denen Mayröcker ihre 120 Bücher geschrieben hat. Bevorzugter Typ: Hermes Baby. Weil es darauf kein scharfes S gab, wurde das SZ erst zur Notlösung und dann zum Markenzeichen. Der Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld murrte lange, nahm dieses Kuriosum im Druckbild der Texte aber schliesslich hin. Damit war die Wiener Autorin bei Suhrkamp richtig angekommen.

Sie schrieb und schrieb. An Werken, die romanhafte Konzepte hatten, an Gedichten und an den Sudelbüchern namens «cahier». Mayröckers Manuskripte sind Schlachtfelder der Einfälle. Verschiedenfarbige Stifte und Textmarker revoltierten auf den Seiten von «mein Herz mein Zimmer mein Name» oder «Die Abschiede» gegen das Getippte, aber der Kampf um Endgültigkeit war immer nur vorübergehend entschieden. Hier gibt es nichts Endgültiges.

«Tatsächlich folgt mir meine eigene biographie wie ein schatten», hat Mayröcker einmal notiert und damit ein ontologisches Paradoxon angesprochen. Schattenhaft war für die Dichterin nicht die Parallelwelt des Schreibens, sondern das gelebte Leben. Wenn man darum weiss, verändert das den Blick auf die Fotos in der Ausstellung. Das Kind Friederike Mayröcker mit Pagenfrisur auf einer Wiese stehend, ein Blumensträusschen in der Hand. Viele Aufnahmen aus Ferien auf dem Land. Oder die Dichterin ganz spät. Als sie schon weit über neunzig war, aber wie ein Pop-Star zur dunklen Sonnenbrille eine Jeansjacke trug.

Von der «hermetischen Kindheit», von einer «Luftballonkindheit» hat Mayröcker gesprochen, weil ihre Eltern sie wegen einer Krankheit schon früh von allem abschirmten, was gefährlich hätte werden können. Der schützende Hof des Grossvaters im niederösterreichischen Deinzendorf wurde zur Parallel- und Gegenwelt der ersten Lebensjahre und dann erst recht in der Kriegszeit. Als die Dynastie aus Wiener Delikatessenhändlern einen ökonomischen Abstieg hinnehmen musste, war der Hof weg, und dieses traumatische Erlebnis wurde zum Erinnerungskatalysator.

Das Wort «Deinzendorf» ist Mayröckers Chiffre für einen Urzustand des Poetischen, für ein Wohleingefügtsein in die Welt, das ihre Literatur auf jeder Seite beschwört. Auch das Wuchern im Kosmos der Dichterin und die stummen Zwiegespräche mit den Dingen kommen aus Landschaften wie dieser. Grössere Reisen zu unternehmen, war Friederike Mayröcker ein Graus. Wenn die Welt allerdings in den eigenen Wänden durch sie hindurchging, war das ein idealer Zustand.

Evidenzen der Plötzlichkeit

Unter den Händen der Dichterin hat sich Banales zur Kunst verändert. Auf die Verpackung einer Mikrofaser-Strumpfhose schreibt sie: «es soll 1 ewiger Tag sein ‹wie im Gesangbuch›.» Auf einem Pappteller steht: «finde aber viele Gedächtnisse nicht mehr. ENDE.» Im Inneren einer Pralinenschachtel steht: «Oh Phantasma, mit Veilchen und Blitzen.» Friederike Mayröcker arbeitet mit den Evidenzen der Plötzlichkeit, mit poetischen Blitzschlägen, die durch eine Ausstellung wie die im Wiener Literaturmuseum vielleicht schwer dargestellt werden können. Ein bisschen mehr Mut hätte allerdings nicht geschadet. Bei vielen Bebilderungen des Lebens hat der grossartige Katalog die Nase vorn.

Zu sehen ist in der Ausstellung die ikonische Schultafel aus Mayröckers Wohnung, auf der in Kreideschrift steht: «hier alles TABU», ausserdem eine kleine Horde von Plüschtier-Snoopys, dem Wappentier des Buches «Fantom Fan» («dedicated to the idea of SNOOPY»). Es gibt Schallplatten aus dem Nachlass und sonst sehr viel Flachware. Verlegerbriefe, Manuskriptseiten und immerhin einige von den anrührenden Zeichnungen. Ein Porträt von Mayröckers Lebensgefährte Ernst Jandl als Strichmännchen, ein orangefarbener «Zittergaul» oder die erst fotografisch, dann zeichnerisch festgehaltene «zufällige Begegnung» zweier Brothälften, die aussehen wie Gesichter. Auf einem Bild zieht eine Frau ein knallrotes Herz mit Beinchen hinter sich her. Darunter steht: «an die kandare genommen.»

Ein «tyrannchen» namens Tod

Das Tremolo der Liebe bestimmt ein Werk, das überall Fetische sucht und auch findet. Solche «Gegenstandswesen» waren in Mayröckers Lebenskosmos omnipräsent, und man hätte diesem «groben verboxten Gesindel» beim Unboxing der Archivkisten für die Ausstellung vielleicht mehr Aufmerksamkeit widmen können. Von der Hand der Dichterin berührt, wächst das Banale über sich hinaus. Die Messie-Wohnung in der Wiener Zentagasse bildete in Wahrheit ein einziges grosses Gedicht aus Dingen. Eine Komposition, deren Teil Friederike Mayröcker selbst war und an die sich unaufhörlich Material anlagerte. Gegenständliches und Immaterielles. Medikamentenschachteln und Musik, Wäschekörbe voller Zettel und pfingstliche Erfahrungen.

Beinahe ein Leben lang hat die Dichterin Schutzgeister gezeichnet, engelhafte Wesen, die sie aber nicht bewahren konnten vor dem «tyrannchen» namens Tod. Gearbeitet hat Mayröcker bis kurz vor ihrem Tod im Juni 2021. Die Büchner-Preis-Trägerin, die Schreiben und Leben als kommunizierende Gefässe verstanden hat und immer uralt werden wollte, konnte ihren heurigen 100. Geburtstag nicht mehr erleben. «leg mir nur 1 Blume auf das frische Grab nicht / Kranz nicht Tannenhändchen Palmenhaupt», hat sie einmal geschrieben. Etwas mehr als nur eine schnöde Blume wird die literarische Welt der Dichter-Dichterin zu ihrem Hundertsten im Dezember wohl doch aufs Grab legen.

«ich denke in langsamen Blitzen» – Friederike Mayröcker. Jahrhundertdichterin. Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek. Bis 16. Februar 2025. Katalog 35 Euro.

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