Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik verfehlt ein Kanzlerkandidat bei der Wahl im Deutschen Bundestag die nötige Mehrheit. Das Grundgesetz sieht dafür klare Regeln vor.

Der designierte deutsche Kanzler Friedrich Merz hat im ersten Wahlgang im Deutschen Bundestag die nötige absolute Mehrheit verfehlt – das hat es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie gegeben. Die Koalition von CDU, CSU und SPD ist im Parlament mit 328 Abgeordneten vertreten. Um gewählt zu werden, hätte Merz 316 Stimmen gebraucht. Schliesslich votierten jedoch nur 310 Abgeordnete für ihn.

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Gemäss Artikel 63 des deutschen Grundgesetzes kann der Bundestag innert zweier Wochen zusammentreten, um mit absoluter Mehrheit einen neuen Kanzler zu wählen. Dabei kann es beliebig viele Wahlgänge und Kandidaten geben, vorausgesetzt, mindestens ein Viertel der Abgeordneten spricht sich für einen Wahlvorschlag aus. Sollte Merz innerhalb der vierzehn Tage nicht gewählt werden, reicht in der dritten Wahlphase auch eine einfache Mehrheit der Abgeordneten für die Wahl eines neuen Kanzlers.

Scholz ist so lange geschäftsführend im Amt, wie das neue Kabinett noch nicht vom Bundespräsidenten ernannt ist. Ein geschäftsführender Kanzler hat juristisch betrachtet die gleichen Kompetenzen wie ein regulärer Kanzler. Allerdings ist es in Deutschland unüblich, dass die geschäftsführende Regierung Gesetze einbringt oder weitreichende Massnahmen beschliesst, die eine neue Regierung in ihrem Handlungsspielraum einschränken könnten. Derzeit weiss der Sozialdemokrat Scholz ohnehin nicht die Mehrheit der Abgeordneten hinter sich. Vorerst bleiben neben Scholz auch seine Minister von der SPD und den Grünen geschäftsführend im Amt.

Der SPD-Fraktionsvorsitzende und designierte Vizekanzler Lars Klingbeil äusserte sich zurückhaltend zum Wahlergebnis. «Wir werden jetzt mit den anderen demokratischen Fraktionen den weiteren Prozess klären», sagte er. Deutliche Kritik äussern die Grünen und die FDP. Felix Banaszak, Co-Vorsitzender der Grünen, nannte den ersten Wahlgang «eine Zäsur», wenn auch «keine gute». Das Land brauche eine «handlungsfähige Regierung». Der designierte FDP-Vorsitzende Christian Dürr teilte auf der Plattform X mit, eine instabile Regierung ohne eigene Mehrheit sei «ein echtes Problem». Der CSU-Vorsitzende Markus Söder schrieb auf X, alle Parlamentarier sollten «vernünftig abwägen, was auf dem Spiel steht». Es brauche jetzt eine Mehrheit für Merz.

Denkbar wäre ein Szenario, in dem die AfD in einem der nächsten Wahlgänge für Merz stimmt. Einen Präzedenzfall gab es etwa 2020 bei der Wahl des Ministerpräsidenten im Thüringischen Landtag. Damals liess sich der FDP-Politiker Thomas Kemmerich mit Stimmen der AfD wählen – er löste damit allerdings eine Regierungskrise aus und trat wenig später zurück. Die Parteivorsitzenden Tino Chrupalla und Alice Weidel riefen ihre Abgeordneten am Dienstag zunächst dazu auf, auch in den folgenden Wahlgängen gegen Merz zu stimmen. Weidel sagte, es sei an der Zeit, dass die AfD Regierungsverantwortung übernehme. Die Grünen-Politikerin Renate Künast schloss «Hilfsstimmen» für Merz ebenfalls aus, wie auch alle anderen Oppositionsparteien. «Wir hieven ihn nicht in etwas hinein, und dann hat er die Mehrheiten für Dinge, die wir politisch für falsch halten», sagte sie.

Es gibt zwei Szenarien, in denen Merz die Kanzlerschaft noch entgleiten könnte. Das erste dürfte eher unwahrscheinlich sein: Würde Merz in den kommenden vierzehn Tagen daran scheitern, im Bundestag die nötige absolute Mehrheit zu erzielen, könnte auch der Kandidat einer anderen Fraktion in der darauffolgenden Wahlphase Kanzler werden – vorausgesetzt, eine einfache Mehrheit der Abgeordneten stimmt für ihn. Das zweite Szenario wäre ebenfalls wenig wahrscheinlich, aber rechtlich möglich: «Sollte Merz in der dritten Wahlphase die absolute Mehrheit im Bundestag verfehlen, wäre der Bundespräsident nicht dazu verpflichtet, ihn zum Kanzler zu ernennen», sagt der Staatsrechtler Volker Boehme-Nessler der NZZ. «Genauso gut könnte er den Bundestag auflösen und Neuwahlen veranlassen.»

Am Dienstagmorgen hatten sowohl die Union wie auch die SPD in der Fraktion noch einmal durchgezählt. Sie stellten fest, dass alle ihre Abgeordneten im Bundestag anwesend waren. Damit hätten die Koalitionäre eigentlich über die nötige Mehrheit verfügt. Nun geben sie sich jedoch gegenseitig die Schuld für die gescheiterte Wahl. Union wie SPD bestreiten, dass die achtzehn Abweichler aus ihren Reihen stammen. Prüfen lassen sich die Aussagen nicht, denn die Wahl ist geheim.

Im Bundestag herrschte nach der Abstimmung angespannte Betriebsamkeit. Die Fraktionen zogen sich zu Gesprächen zurück. Der SPD-Chef Lars Klingbeil wurde gesehen, wie er vom Saal der Union in jenen seiner eigenen Fraktion lief. Nach Informationen der NZZ wollen sich die Fraktionen am Nachmittag abermals treffen. Dort soll besprochen werden, wie es nun weitergeht – sprich: wann der nächste Wahlgang stattfindet. Als Termine im Gespräch sind derzeit offenbar sowohl der Dienstagnachmittag als auch Mittwoch oder Freitag.

Die gescheiterte Wahl hat den Kanzlerkandidaten beschädigt. Im Wahlkampf versprach Merz den Deutschen spürbare Veränderungen ab dem ersten Tag seiner Kanzlerschaft. Stattdessen muss er nun noch vor seinem Amtsantritt eine erste staatspolitische Krise lösen. Nicht nur innenpolitisch dürfte die gescheiterte Wahl ein Malus bleiben, auch international steht Merz angezählt da. Gleich am Mittwoch wollte er eigentlich zu seinen Antrittsbesuchen nach Paris und Warschau reisen. Er hätte dort wichtige Gespräche zur Zukunft des Landes führen sollen: über die Zurückweisung illegal eingereister Migranten an den deutschen Grenzen und die weitere Unterstützung für die Ukraine. Stattdessen wurden die Reisen dem Vernehmen nach nun verschoben. Beim Gedenken zum 80. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai wird Deutschland statt von Merz nun von Scholz vertreten.

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