Donnerstag, Februar 13

Die Region im Süden Westfalens ist für viele Deutsche Terra incognita. Dabei sind die Sauerländer wirtschaftlich äusserst erfolgreich. Ein Besuch in der Heimat des CDU-Kanzlerkandidaten.

An diesem Februarmorgen geht es ruhig zu auf dem Marktplatz von Brilon, jener Stadt, die womöglich bald als der Heimatort eines deutschen Bundeskanzlers bekannt sein wird. Nur wenige Passanten stehen an den Ständen, was wohl dem schneidenden Wind und der Kälte geschuldet ist. Dem Blick des Kanzlerkandidaten kann allerdings niemand entgehen. Friedrich Merz schaut freundlich aus luftiger Höhe von den Plakaten hinab, der Wahlspruch, gehalten in sachlicher Schrifttype, wendet sich direkt an die Landsleute: «Mehr Sauerland für Deutschland».

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«Mehr Sauerland für Deutschland» – auf den ersten Blick ergibt diese Parole Sinn. Denn hier, im Norden der Region im Süden Westfalens, gehen die Dinge zwar beschaulich, aber noch solide voran. Eine Stadt in bester Ordnung, geprägt von Fachwerk, von einem kleinen, aber schmucken Marktplatz und einer stattlichen Kirche, von vielen Geschäften, die davon zeugen, dass trotz trüber Konjunktur noch allerhand nachgefragt wird.

Was aber bedeutet es, wenn Friedrich Merz damit wirbt, das Sauerland solle dem Rest des Landes als Vorbild dienen?

Die Legende vom Moped-Rocker

Einer, der wenig mit dieser Parole anfangen kann, ist Joachim Gerhard. Er ist eine Koryphäe: Gerhard entwickelt Lautsprecher, die bis zu 150 000 Euro das Paar kosten. Ein kleiner Betrieb, trotzdem ein Global Player, mit Kundschaft von Vancouver bis Tokio, und damit gar nicht so untypisch für die Gegend.

Gerhard hantiert mit einem Kabel, so dick wie der Unterarm eines Kindes, er mustert einen mannshohen Lautsprecher, der brachiale Sinfonik ohne Verzerrungen in den Raum donnert.

«Er hat ja auch die Unwahrheit gesagt», sagt er plötzlich – und meint damit Friedrich Merz. «Er behauptet, er sei mit dem Motorrad durch die Gegend gefahren. Ich habe ihn nie gesehen.»

Friedrich Merz und die Heimat: Das ist, man ahnt es, eine ambivalente Geschichte. Damals, kurz nach dem Jahrtausendwechsel, brüsteten sich allerhand Politiker mit ihrer wilden Vergangenheit. Merz, seinerzeit CDU-Fraktionschef im Bund, berichtete, er sei mit flatterndem Haar auf dem Moped durch die waldreiche Gegend geknattert – offenbar eine Legende, deren wahrer Kern weit unspektakulärer ist. In Brilon, wo die Familie des Kandidaten alteingesessen ist, hat man ihm diese Geschichte jedenfalls nicht vergessen.

Längst ist Merz aus den Höhenlagen der Region in die Ebene gezogen, in ein Dorf mit dem schönen Namen Niedereimer, vor den Toren Arnsbergs, den Sitz der Bezirksregierung. Seinen Wahlkreis hat der Mann dennoch im Griff, erst recht jetzt. Im Januar schaute er gemeinsam mit dem bayrischen Ministerpräsidenten Markus Söder in der alten Heimat vorbei. In der örtlichen Schützenhalle liess sich der Kandidat von tausend Besuchern beklatschen.

An den Schützenvereinen kommt niemand vorbei

«Glaube – Sitte – Heimat» – so lautet der Leitspruch der Schützenvereine, jener Institutionen, die die Gegend stärker charakterisieren als der noch immer tief verwurzelte Katholizismus. Kein Dorf ohne Kirche, keines ohne Schützenhalle. Einmal im Jahr versammelt sich die Gemeinde, tritt unter die Vogelstange und schaut dem Treiben am frühen Sonntagmorgen zu, wenn der hölzerne Adler aus einem stählernen Kugelfang geschossen wird. Der Schützenkönig repräsentiert seinen Verein bei allen Festumzügen in den Nachbardörfern samt Hofstaat.

Am Schützenverein kommt hier niemand vorbei. Das weiss auch Dirk Wiese, der SPD-Kandidat für den Hochsauerlandkreis: «Wer in jedem Schützenverein des Sauerlandes Mitglied ist, der kann am Jahresende Privatinsolvenz anmelden.»

Der Jurist, tadellos gescheitelt, empfängt in einem Restaurant am Marktplatz von Brilon. Kürzlich hat er dem Konkurrenten einen Streich gespielt. Als Merz mit der Sauerland-Parole warb, liess Wiese sich die Adresse im Internet reservieren. Wer den Slogan des Widersachers eingab, landete bei Wiese, der dort ein Zehn-Punkte-Programm für das Sauerland vorstellte. Für manche, so scherzt Wiese mit einer Anspielung auf eine Wendung der einstigen CDU-Kanzlerin Angela Merkel, sei «das Internet eben Neuland».

Ein Gespräch mit Dirk Wiese ist eine abwechslungsreiche Angelegenheit, vor allem aber vermittelt er den Eindruck eines wandelnden Fremdenverkehrsamtes. Unentwegt wirbt der Lokalpatriot für die Heimat. Nur zu den Sitzungswochen des Bundestages fahre er nach Berlin, wann immer es gehe, sei er im Wahlkreis. Mehr Sauerland für Deutschland: In diesem Punkt möchte Wiese seinem prominenten Konkurrenten gar nicht widersprechen. Zumal sein Programm auch bei der politischen Konkurrenz Anklang finden könnte. Wiese zählt zum pragmatischen Flügel der deutschen Sozialdemokraten.

«Politik ist das Bohren harter Bretter», sagt er und paraphrasiert damit den Soziologen Max Weber, um die einheimische Wesensart zu beschreiben. Die Beharrlichkeit der Sauerländer grenze, wenn sie sich einer Sache einmal verschrieben hätten, an Sturheit: «Der Esel ist nicht umsonst Brilons Wappentier.»

Die Sauerländer haben «Ahnung»

Trinkfeste «Bergwestfalen»: So hat Günter Grass die Menschen aus dieser literarisch sonst eher unterbelichteten Region im Süden Westfalens genannt, und diese Umschreibung hat etwas für sich, denn darin schwingt eine gewisse Eigentümlichkeit mit. Es ist nicht nur das Beharrungsvermögen, das den Sauerländern nachgesagt wird, sondern auch «ein ausgeprägtes Gespür, eine Witterung für Dinge und Ereignisse, die noch unter dem Horizont liegen». Das jedenfalls attestiert der Historiker Ulrich Raulff, ehedem Feuilletonchef der «Frankfurter Allgemeinen» und Leiter des Deutschen Literaturarchivs in Marbach, seinen Landsleuten. Die Fähigkeit, «Ahnung» zu haben, helfe, sich auf kommende Ereignisse einzustellen.

Provinz im eigentlichen Sinne ist der Landstrich. Denn eine Metropole gibt es hier, eine gute Autostunde von Köln entfernt, nicht. Früher landwirtschaftlich geprägt, heute aber das industrielle Herz Nordrhein-Westfalens. Auf den ersten Blick sind die Unternehmer im Sauerland vergleichsweise gut durch die Rezession gekommen, wenngleich die Bedingungen sich für sie auch verschlechtert haben. Hohe Energiepreise und ein überschäumender Regulierungsdrang werden beklagt, die Konjunkturdelle kann durchaus an die Substanz gehen. Der Begriff der Deindustrialisierung ist auch hier kein Gespenst, das grundlos auf eine Leinwand projiziert wird.

Getragen wird das Sauerland vom Mittelstand. Es sind Betriebe, die bis weit über die Grenzen der Region hinaus tätig sind. Etliche Weltmarktführer, die hochspezialisierte Produkte in der Metall- und Elektroindustrie herstellen, sind hier beheimatet, die sogenannten «Hidden Champions». 160 von ihnen gibt es im Süden Westfalens, viele liefern der Automobilindustrie zu. Patente, Erfindungen, die ständige Suche nach Verbesserung: Diesen Trumpf können die oftmals familiengeführten Mittelständler auch in schwierigen Zeiten ausspielen.

Nur an wenigen Orten sind sich Industrie und Natur so nahe. Aber das Sauerland ist eben auch eine Region scheinbar unendlicher Weiten. Die Einsamkeit ist ein Merkmal dieser Landschaft, deren Nadelwälder so dicht wirken, als kämen sie aus F. W. Murnaus «Nosferatu». Kilometer um Kilometer kann man mit dem Auto fahren, ohne an einem Haus vorbeizukommen. Die Struktur der Dörfer ist stets ähnlich: intakt, gepflegt, an keiner Kirche fehlt der Aushang der Messzeiten.

Altena, das Detroit der Region

Auf den ersten Blick ein Idyll. Aber auch hier gibt es noch eine andere Seite, die nicht von Erfolg und Erhalt, sondern von Verfall geprägt ist, von Orten, die weit bessere Zeiten erlebt haben. Wer sich entlang des Flusses Lenne nach Altena begibt, der wird, anders als in Brilon, Schmallenberg oder Arnsberg, nicht von liebevoll in Schuss gehaltenen Fachwerkhäusern mit Balkengiebeln empfangen, sondern von Industrieruinen, die heute nur noch ein Beleg für den einstigen Reichtum der Stadt sind. Beinahe die Hälfte der einst 32 000 Einwohner hat Altena, einst ein Zentrum der metallverarbeitenden Industrie, verloren. Wer behauptet, es sei das Detroit der Region, liegt gar nicht einmal falsch.

Ein Ort wie eine Mahnung. Auch stabile Verhältnisse können erschüttert werden. Die Topografie trug ihren Teil dazu bei: In den Tälern wuchsen die Industriestätten in die Höhe, dicht an den Flüssen, um Energie für die Werkstätten zu gewinnen. Heute, wo die Fläche eine immer grössere Rolle spielt und Produktionsanlagen auch in der Region erstaunliche Ausmasse angenommen haben, ist ein solcher Industriestandort nicht mehr konkurrenzfähig.

Dabei braucht man nur 30 Kilometer in die eine wie in die andere Richtung zu fahren, und man erhält ein vollständig anderes Bild. In Iserlohn, dem märkischen Teil des Sauerlandes, hat die Kirchhoff-Gruppe ihren Hauptsitz. Ein Automobilzulieferer von enormer Grösse, betrieben von drei Brüdern, seit Generationen im Familienbesitz und vor allem in den letzten Jahrzehnten ständig gewachsen. Mehr als 14 000 Mitarbeiter beschäftigt das Unternehmen an 27 Standorten weltweit. Arndt Kirchhoff, Vorsitzender des Aufsichtsrats der Firmengruppe und Präsident des Arbeitgeberverbandes Metall NRW, empfängt im Attendorner Werk des Konzerns.

Familienunternehmen grösser als manche Konzerne

Wenn er über das Unternehmen spricht, fällt dann und wann der Begriff Mittelstand. Das ist bemerkenswert, und für einen Augenblick könnte man meinen, er spreche nur über das Werk in Attendorn, in dem 500 Menschen beschäftigt sind. Im Grunde aber ist die Kirchhoff-Gruppe ein Konzern.

Ist es blankes Understatement? Nein, sagt Kirchhoff. Wenn er vom Mittelstand rede, dann spreche er, ungeachtet der Dimensionen, von Familienunternehmen, von Betrieben, die über eine Generation hinaus wirtschafteten. Das treffe auch auf die Kirchhoff-Gruppe zu, ungeachtet ihrer Grösse und ihres Umsatzes von 3,5 Milliarden Euro im vergangenen Geschäftsjahr. Die Ausmasse seines Büros spiegeln die Grösse des Konzerns jedenfalls nicht im Ansatz wider, aber es verfügt über eine wohl einzigartige Aussicht. An die Produktionshallen schliesst ein Hang an, auf dessen Wiese Schafe weiden. Der Wald ist nicht weit. Ein Raubvogel kreist über dem Areal auf der Suche nach Beute.

Das Sauerland als Standortfaktor: Arndt Kirchhoff spricht von einer «Leistungsgemeinschaft» – ein Begriff, der wesentlich freundlicher klingt als «Leistungsgesellschaft». Diese Leistungsgemeinschaft, die Kirchhoff skizziert, zeichnet sich vor Ort nicht durch ein Gegeneinander aus, sondern durch ein Miteinander, durch eine Verwurzelung, die ungeheuer produktiv sein kann. Das rege Vereinsleben, der hohe Freizeitwert und noch dazu eine Bildungslandschaft, die das Wort «Problemschule» bisher nicht kennt: Das, so Kirchhoff, seien bemerkenswert gute Voraussetzungen für einen Wirtschaftsstandort.

Das eine bedingt das andere. Doch auch hier ist die Situation fragiler, als sie auf den ersten Blick erscheint. Bei aller Solidität, die sich viele Unternehmen erarbeitet haben: Die teils mürbe Infrastruktur beeinträchtigt die Produktivität ebenso wie die durch Energiepreise enorm gestiegenen Produktionskosten.

Im Mai 2023 wurde die Autobahnbrücke Rahmede gesprengt, sie war marode. Seitdem die Verkehrsader unterbrochen ist, gestaltet sich der Warenverkehr in der Gegend erheblich aufwendiger. Auch sei längst nicht überall begriffen worden, so Kirchhoff, was es heisse, wenn Wertschöpfungsketten vor Ort unterbrochen würden. 500 Betriebe gehören zum Automotive-Netzwerk Südwestfalen; wenn es einem Elektrozulieferer an den Kragen geht, bekommen es auch die Kollegen aus der Metallverarbeitung zu spüren.

«Mehr Sauerland» ist kein Wagnis

Der Unternehmer Kirchhoff setzt grosse Hoffnungen in einen möglichen Regierungschef Friedrich Merz. Kirchhoff, eine imposante Erscheinung, kann dem Kanzlerkandidaten jedenfalls buchstäblich auf Augenhöhe begegnen. Getroffen haben sie sich oft. Merz habe das notwendige Verständnis, er wisse, wie ökonomische Zwänge einzuordnen seien, und er wisse auch, wie darauf zu reagieren sei.

Es klingt nach Wandel. Aber das ist nichts Neues. Zu viele Veränderungen hat diese Region erlebt, und meist kam es am Ende für die Leute besser heraus. Insofern stellt die Ankündigung von Friedrich Merz, mehr Sauerland für Deutschland wagen zu wollen, kein grosses Wagnis dar. Sie ist allerdings auch keine Verheissung. Sondern die Aussicht darauf, dass es bestenfalls ein bisschen solider zugehen wird.

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