Freitag, Oktober 25

Neuerdings betreibt die Desinformations-Maschine «Russia Today» eine Unterseite speziell für die Schweiz. Seit Anfang Jahr läuft darüber zehnmal mehr Inhalt als noch 2023. Was will Russland damit erreichen?

Es ist ein ständiges Rauschen im Hintergrund des öffentlichen Diskurses: Russland unterlegt aktuelle Debatten in freien Demokratien seit Jahrzehnten mit Desinformation. Die Schweiz war bisher weniger stark davon betroffen als andere Länder. Doch nun wird das Rauschen auch hierzulande lauter.

Das zeigt eine Analyse über die russische Propaganda-Plattform Russia Today (RT). Ende Januar führte die deutschsprachige Website von RT einen eigenen Bereich speziell für die Schweiz ein, wie eine Recherche im Internetarchiv ergibt. Seither berichtet RT zehnmal mehr über die Schweiz.

Fachleute sind über das stark gestiegene Engagement der russischen Propagandisten in der Schweiz besorgt. Aleksandra Urman, die am Departement für Informatik der Universität Zürich unter anderem die Schweizer Informationslandschaft erforscht, schreibt auf Anfrage: «So etwas haben wir in dem Ausmass noch nie gesehen.» Die Schweizerinnen und Schweizer seien nun einem erhöhten Risiko ausgesetzt, von russischer Propaganda beeinflusst zu werden.

Roman Horbyk, Medienwissenschafter am Slawischen Seminar der Universität Zürich, spricht von einem Informationskrieg. Russland betreibe in freien, westlichen Demokratien seit Jahrzehnten Desinformationskampagnen, die die Länder destabilisieren sollen. Die Schweiz sei im Januar in den Fokus der russischen Propagandisten gerückt, als sie die Friedenskonferenz für die Ukraine angekündigt habe.

Dass die Anzahl der Artikel über die Schweiz auf RT auch nach der Konferenz im Juni hoch blieb, deutet Horbyk als Zeichen für eine grundlegende Veränderung der russischen Interessen in der Schweiz. «Die Schweiz wird nun offenbar vermehrt zum Fokusland für russische Propaganda», sagt Horbyk, der selbst aus der Ukraine stammt. Insgesamt hat RT dieses Jahr über 200 Artikel zur Schweiz veröffentlicht.

Abschätzig, skandalisierend, hetzerisch

Der Inhalt der RT-Artikel entspricht klassischer russischer Desinformation. Wer die Berichterstattung regelmässig liest, bekommt ein düsteres Bild vom Land: Es scheint an der Tagesordnung, dass Ausländer Kinder abstechen, Flüchtlinge den Staat hintergehen, die Regierung willkürlich und korrupt handelt.

Zu den häufigsten Themen gehört aber der Ukraine-Krieg. Oft wird dabei über ukrainische Flüchtlinge berichtet, meist abschätzig und skandalisierend, zum Beispiel Mitte Oktober unter dem Titel «‹Friss, du Schmarotzer!› In der Schweiz wächst Unzufriedenheit über ukrainische Flüchtlinge».

Ein weiteres wiederkehrendes Thema ist die Schweizer Medienlandschaft: Besonders gerne scheint RT die «20 Minuten» und den «Tages-Anzeiger» zu kritisieren. Ausserdem kommen Schweizer Banken, die Armee und die Schweizer Neutralitätspolitik oft schlecht weg.

Laut dem Medienwissenschafter Horbyk ist der Ton der Berichterstattung typisch für russische Desinformation: Er solle schwelende Konflikte in der Bevölkerung anheizen, indem polarisierende Argumente und Begebenheiten aufgezeigt werden.

Bezeichnend für die russische Propaganda ist ausserdem, dass die Texte einen Gegensatz zwischen berechtigten Interessen von Schweizerinnen und Schweizern und der Unterstützung der Ukraine herbeischreiben. So titelte RT im September beispielsweise «Milliarden für Selenski, Sparmassnahmen bei Schweizer Kindern: Für wen spart der Bundesrat?». Dazu zeigte es ein höchstwahrscheinlich KI-generiertes Bild von einem Kleinkind, das den ukrainischen Präsidenten anschreit. Solche Texte, die starke Emotionen wie Wut und Ohnmacht auslösen sollen, gibt es unzählige.

Schaut man sich alle Artikel auf RT an und bildet sie nach der Ähnlichkeit ihrer Titel ab, sieht man, wie präsent das Narrativ der untergehenden Schweiz auf der Website ist. Mit einem Klick auf die Punkte sehen Sie die Titel der Artikel.

Methodik der Datenanalyse

Die Titel aller Artikel, die unter dem Reiter «Schweiz» auf Russia Today aufgelistet sind, wurden heruntergeladen.

Für die Liste der häufigsten Themen wurden die Artikeltitel nach Stichwörtern durchsucht. Kommt beispielsweise das Wort «Ukraine», «Selenski» oder «Krim» im Titel vor, wird der Text zum Thema «Ukraine-Krieg» gezählt.

Für die Punktewolke wurden diese Titel mithilfe eines KI-Modells zu Zahlenreihen umgewandelt, die die Ähnlichkeit der Titel zueinander codieren. Die zweidimensionale Darstellung wurde mithilfe der t-SNE-Methode entwickelt, die darauf optimiert ist, die Ähnlichkeit von Zahlenreihen abzubilden. Die Themen-Cluster wurden mithilfe des K-Means-Algorithmus bestimmt.

In einer Stellungnahme bezeichnet Russia Today den Vorwurf, dass sie klassische russische Desinformation in Umlauf bringen, als «Schlag unter die Gürtellinie». Den eigenen Bereich für die Schweiz habe man auf Nachfrage der Leser eingerichtet. Diese wünschten sich eine «breitere Perspektive» in der Berichterstattung.

RT hat vergleichbare Reichweite wie die «Weltwoche»

Wie erfolgreich RT bei der Schweizer Bevölkerung ist, ist schwer abzuschätzen. Auf Anfrage schreibt RT, es erfülle sie mit Stolz, dass ihre Leserschaft in der Schweiz stetig wachse.

Laut einer Studie der Universität Zürich aus dem Jahr 2021 handelt es sich bei RT um eines der grössten Desinformations-Portale in der Schweiz. Sie schätzt die Reichweite der Plattform als ähnlich hoch ein wie jene der Websites der Wochenmagazine «Weltwoche» und «WoZ». Dazu kommt, dass RT ihre Texte auf den sozialen Netzwerken bewirbt. So erreicht sie auch Menschen, die nicht explizit nach den Inhalten von RT suchen.

Allerdings deutet eine weitere Studie der Universität Zürich aus dem Jahr 2020 darauf hin, dass es russische Propagandisten in der Schweiz schwerer haben als in anderen Ländern. Dies liegt unter anderem daran, dass in der Schweiz relativ viele Menschen den traditionellen Medien vertrauen und deshalb alternativen Nachrichtenquellen wie RT weniger Aufmerksamkeit schenken.

Doch der Medienwissenschafter Roman Horbyk relativiert diese Erkenntnis. Er sagt: «Es ist gar nicht das Ziel von RT, die grosse Masse von Schweizerinnen und Schweizern zu erreichen.» Strategisch sei es für den Kreml interessanter, eine kleine Gruppe von Menschen mit seinen Standpunkten aufzuwiegeln.

In den USA sei es beispielsweise gelungen, einzelne Abgeordnete wie Marjorie Taylor Greene für russische Interessen einzuspannen. Diese wiederum hätten das prorussische Gedankengut in den Mainstream der republikanischen Partei getragen, sagt Horbyk. «RT schafft ein Einfallstor für einseitiges, prorussisches Gedankengut. Mehr ist gar nicht nötig.»

Schweizer Politikerin wird nach RT-Artikel angefeindet

Dass RT in der Schweiz eine Wirkung entfaltet, zeigt ein Fall um die SP-Nationalrätin Priska Seiler Graf. Die Plattform schrieb Mitte Juni, Seiler Graf wolle es der Ukraine ermöglichen, «russische Städte zu bombardieren». Sie habe gefordert, dass die Schweiz so schnell wie möglich ihre «militärische Stärke» gegenüber Russland demonstrieren solle.

Das war frei erfunden. Seiler Graf, ehemaliges Mitglied der Gruppe Schweiz ohne Armee, sagte laut dem Online-Portal Persoenlich.com, der RT-Artikel sei «so perfide konstruiert, dass viele Schweizerinnen und Schweizer das offenbar glauben». Sie sei deswegen mehrfach «aufs Gröbste beschimpft» worden.

Aus der Forschung weiss man ausserdem, was sonst noch droht, sollte die Desinformation vermehrt in der Bevölkerung ankommen: Sie könne das Vertrauen in Medien, Institutionen und Informationen an sich langfristig beschädigen, schreibt der Bundesrat in einem Bericht zu Beeinflussungsaktivitäten und Desinformation. Weiter würde sie das Vertrauen in die Polizei und die Strafverfolgung untergraben, indem sie den Eindruck erwecke, die Behörden würden einseitig ermitteln, willkürlich handeln oder seien unterwandert. Im schlimmsten Fall könne dies «zur Radikalisierung von Betroffenen führen», schreibt der Bundesrat.

Was tun wir dagegen?

Fachpersonen wie Aleksandra Urman fordern deshalb eine Art Monitoring für russische Propaganda: «Wir müssen feststellen, wie empfänglich die Bevölkerung für Desinformation ist – und natürlich versuchen, ihre Empfänglichkeit zu verringern», schreibt sie.

Weiter sei es wichtig, das Vertrauen der Menschen in die traditionellen Medien zu fördern, und die Medienkompetenz in der Bevölkerung zu stärken. In Ländern wie Deutschland oder den USA, die beide schon seit Jahren im Fokus der russischen Propaganda stehen, übernähmen alternative News-Plattformen heute vermehrt prorussisches Gedankengut. «Gelingt es uns in der Schweiz, das Vertrauen in die sogenannten ‹Mainstream-Medien› wieder zu stärken, dürften auch Kanäle wie RT an Anziehungskraft einbüssen», sagt Urman.

Die EU hat währenddessen radikalere Massnahmen verhängt: Seit April vergangenen Jahres ist RT in den Mitgliedsländern verboten. Aus Deutschland kann man die Website daher nicht mehr erreichen. In der Begründung der EU-Kommission hiess es, Propagandakampagnen «stellen eine erhebliche und unmittelbare Bedrohung für die öffentliche Ordnung und Sicherheit der Union dar».

Die Schweiz gewichtete bisher die freie Meinungsäusserung höher als das Risiko durch Desinformation. Wird der russische Klangteppich aus Propaganda lauter, stellt sich die Frage nach Gegenmassnahmen allerdings nochmals neu.

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