Dienstag, Oktober 8

Der vierte Teil unserer Serie «Spaziergänge durch das Bewusstsein» beschäftigt sich mit Fruchtfliegen, die mit Ketamin als Antidepressivum behandelt werden. Es wirkt auch bei ihnen.

«Die Forschung hat ein neues Antidepressivum für Fruchtfliegen entwickelt. Getestet wurde es vorgängig am Menschen.» Diesen Kurzbericht würde man eigentlich in einer Satirezeitschrift erwarten, doch die Realität ist manchmal kurioser als unsere Vorstellungskraft.

Ketamin ist ein Anästhetikum, das vor über einem halben Jahrhundert erstmals hergestellt wurde. Unter dem Namen «Special K» avancierte es in den 1970er Jahren zur beliebten Partydroge, die Halluzinationen und gelegentlich wüste Panikattacken auslöste. Erst um die Jahrtausendwende folgte die Erkenntnis, dass Ketamin bei niedriger Dosierung auch eine antidepressive Wirkung entfalten kann.

Seit 2020 ist es in der Schweiz für die Behandlung therapieresistenter Depressionen zugelassen. Eine kürzlich erschienene Studie testete nun mikrodosiertes Ketamin an Fruchtfliegen, die depressives Verhalten zeigten, und kam zum Schluss: Es wirkt auch bei ihnen.

Ähnlich verhielt es sich bei anderen Antidepressiva wie Lithiumchlorid oder Fluoxetin (dem Wirkstoff von Prozac). Beide waren in der klinischen Anwendung schon weit verbreitet, als man sie an Fruchtfliegen testete. Der Grund dafür war nicht etwa, dass man den winzigen Insekten den inneren Frieden nicht gönnen wollte, sondern dass man bis dahin nicht im Traum davon ausgegangen war, dass Insekten depressiv sein könnten. Noch heute ist eine solche Aussage höchst umstritten. Tatsache hingegen ist, dass Fruchtfliegen immer häufiger als Modellorganismen eingesetzt werden, um Depressionen zu untersuchen.

Die Insekten werden dabei einer milden Form von wiederkehrendem Stress ausgesetzt, wie zum Beispiel Hitze oder Elektroschocks. Die eine Hälfte der Fliegen kann die unangenehmen Stimuli durch aktive Bewegung ausschalten, die andere hat keinen Einfluss darauf. Die machtlose Hälfte, die dem Stress ausgeliefert ist, entwickelt nach einiger Zeit eine Form von erlernter Hilflosigkeit. Die Fliegen bewegen sich danach deutlich weniger, können sich Orte schlechter merken und verlieren die Motivation, über eine breite Lücke zu klettern – fast so, als gäben sie innerlich auf. Verabreicht man den Fruchtfliegen aber Antidepressiva wie Ketamin oder Fluoxetin, legen sie ihr passives Verhalten ab und bewegen sich wieder normal.

Können Depressionen Leben retten?

Dass depressionsähnliche Mechanismen auch bei Fruchtfliegen auftreten, ist ein Hinweis darauf, dass diese früh in der Evolution entstanden sein könnten. Für diese Theorie spricht auch, dass die Inzidenz von Depressionen in jenem Alter am höchsten ist, in dem Menschen normalerweise Kinder kriegen. Wären Depressionen rein dysfunktionale Störungen, die uns im besten Alter von der Fortpflanzung abhielten, hätte die Evolution die verantwortlichen Gene längst wegselektioniert. Sie träten dann hauptsächlich im hohen Alter auf, wenn die Reproduktionsfähigkeit nicht mehr darunter leidet.

Spaziergänge durch das Bewusstsein

In einer Artikelserie verknüpfen der Autor und Biochemiker Nils Althaus und der Wissenschaftskommunikator Mirko Bischofberger philosophische Fragen über das Bewusstsein mit den neuesten Erkenntnissen aus der Forschung.

Serie

Depressionen scheinen also gewisse adaptive Vorteile mit sich zu bringen. Welche das sind, ist freilich umstritten. Gemäss Randolph Nesse, einem Pionier auf dem Gebiet, könnten sie in Situationen nützlich sein, in denen Bemühungen jeglicher Art vergeblich oder sogar schädlich sind. Der Mangel an Initiative, der Depressionen oft begleitet, würde uns somit vor unseren eigenen destruktiven Handlungen schützen: vor aussichtslosen Statuskämpfen, vor der Unfähigkeit, nachzugeben – und möglicherweise sogar vor Suizid.

Letztgenannte These scheint der Tatsache zu widersprechen, dass depressive Menschen häufiger Suizid begehen als «gesunde». Doch lebensrettende Massnahmen wie der Einsatz von Defibrillatoren korrelieren immer mit erhöhter Sterblichkeit – nicht weil Defibrillatoren töten, sondern weil sie nur an Patienten angeschlossen werden, die ein drastisch erhöhtes Sterberisiko aufweisen. Ohne Depressionen wäre die Suizidrate also womöglich noch höher.

Die bei Fruchtfliegen beobachtete erlernte Hilflosigkeit tritt auch bei Hunden und Ratten auf und gilt als verlässliches Modell für gewisse Formen von Depressionen. Im Gegensatz zu Ratten oder Hunden – den klassischen Depressionsmodellen – sind Fruchtfliegen jedoch äusserst praktische Laborgehilfen: Sie benötigen wenig Platz, vermehren sich rasch, können genetisch leicht verändert werden und bedürfen keiner umständlichen Bewilligungsverfahren. Theoretisch könnte man an ihnen also Tausende von potenziellen Antidepressiva testen und damit die Forschung erheblich beschleunigen.

Eine Milliarde bewusste Insekten pro Person

Dass Fruchtfliegen wider Erwarten ein so nützliches Tiermodell für mentale Krankheiten darstellen, ist jedoch ein zweischneidiges Schwert. Je besser das Fliegengehirn Depressionen imitiert, desto grösser ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass die Fruchtfliegen tatsächlich unter unserer Forschung leiden (zu Ende gedacht, gilt das natürlich für alle Depressionsmodelle, selbst für solche, die am Computer simuliert werden).

Dürfen wir an Fruchtfliegen also immer noch so sorglos herumexperimentieren wie zuvor? Sollten wir jubeln, weil wir neue Behandlungsmethoden auf uns zukommen sehen? Oder sollten wir angesichts des potenziellen Risikos, Milliarden von kleinen Depressionen auszulösen, nun ja, in tiefe Depressionen verfallen?

Es kann einem durchaus ein kalter Schauer über den Rücken laufen, wenn man sich ausmalt, was empfindungsfähige Fruchtfliegen bedeuten würden. Könnten sie Leid und Freude empfinden, gälte dies vermutlich auch für andere Insekten. Auf jede lebende Person kommen gemäss Schätzungen zurzeit mehr als eine Milliarde lebende Insekten. Wir würden also in einen unendlichen Sternenhimmel voller fühlender Wesen blicken, deren Interessen wir bisher komplett ignoriert haben und die wir von nun an irgendwie zu berücksichtigen hätten.

Interessanterweise erinnert das ein wenig an den Jainismus, eine indische Religion, die glaubt, dass alle Lebewesen, auch Insekten, eine Seele haben. Und dass man seine eigene Seele verletzt, wenn man ein anderes Lebewesen versehrt. In diesem Sinne wären wir und die Fliegen eins – nicht zuletzt, weil wir beide die gleichen Partydrogen mögen.


Spaziergänge durch das Bewusstsein

In einer Artikelserie verknüpfen der Autor und Biochemiker Nils Althaus und der Wissenschaftskommunikator Mirko Bischofberger philosophische Fragen über das Bewusstsein mit den neuesten Erkenntnissen aus der Forschung.

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