Sonntag, Oktober 6

Das Buch «Seelenzauber» ist ein unterhaltsamer Überblick über die Kindertage der Psychotherapie. Es beschreibt das Ringen um die vermeintlich richtige Deutung des Lebens – bis es den Psychologen schliesslich doch noch um die Patienten geht.

Sigmund Freud, C. G. Jung, Irvin Yalom, Fritz Perls – die Namen rufen Bilder von Therapeut und Patientinnen auf der Couch hervor. Lange galten diese Männer als Vordenker der Psychotherapie. Heute sieht man sie kritischer. Warum, das schildert der Autor Steve Ayan in seinem Buch «Seelenzauber».

Eine gründliche Darstellung der Geschichte der Psychotherapie, die den Leser auch zu unterhalten vermag? Der hohe Anspruch des Buches hätte leicht scheitern können. Dem Wissenschaftsjournalisten Ayan gelingt die Gratwanderung zwischen dem unterhaltenden Schmöker und einer klar umrissenen Analyse.

Sogar ein Nachschlagewerk ist das Buch. Deswegen wird nicht zu viel vorweggenommen, wenn hier die Grundzüge dieses Entwicklungsromans der Psychotherapie zusammengefasst sind.

Zitate lassen die Personen zum Leben erwachen

Der Autor Ayan geht vom Werdegang der frühen Psychotherapeuten aus. Anhand von biografischen Eckpunkten und zuweilen mithilfe eines Schwanks aus dem Leben der Männer zeichnet er ihren Charakter nach.

Dabei sind es sind vor allem die gut gewählten Zitate, die dem Leser die Personen nahebringen. Etwa wenn Sigmund Freud seinen Schüler C. G. Jung ermahnt, er müsse aus der Sexualtheorie ein unüberwindliches Bollwerk machen. «Wogegen?», fragt dieser. «Gegen die schwarze Schlammflut des Okkultismus», soll Freud geantwortet haben. Er sah sich als Vertreter der «richtigen» Lehre, die er selbst detailreich gestaltet hatte.

Die vielen Zitate sind eine Garantie dafür, dass der Autor nahe an den historisch verbürgten Quellen bleibt, schliesslich haben sich Dutzende Biografen an der Lebensgeschichte von Freud und Co. abgearbeitet. Gleichzeitig entsteht für den Leser ein authentisches Psychogramm der einzelnen Männer.

Der Psychotherapeut erklärt die Ursache des Leidens

Freud, Jung, Adler, Moreno, Perls, Frankl, jeder hatte seine Eigenart, und doch gibt es eine frappante Ähnlichkeit. Was sie alle verbindet, ist ihr grosses Selbst- und Sendungsbewusstsein, Hochmut und schliesslich der unbedingte Wille, recht zu behalten.

Die erste Psychoanalytikerin, Sabina Spielrein, brachte es wohl auf den Punkt, als sie feststellte: «In der Wissenschaft wird die wirkliche Erkenntnissucht durch die Sucht, bewundert zu werden, durch die Machtsucht ersetzt.»

Und auch dem Leser wird schon nach wenigen Seiten klar: Die Therapeuten des letzten Jahrhunderts beschäftigten sich weniger mit Krankheiten im heutigen Sinn als mit Selbsterfahrung. Und oft ging es nur vordergründig um diejenige des Patienten. Die Psychoanalytiker lebten ihren Traum davon, Heilsbringer zu sein. Sozusagen ex cathedra erläuterten sie ihren Patienten die Ursache deren Leidens.

Wie es dem Patienten dabei ging? Sekundär. Und auch vonseiten der Kollegen duldete man keinen Widerspruch. Freud griff gar zu subversiven Massnahmen. Etwa, wenn er ein «geheimes Komitee» von Vertrauten einsetzte, das über die Einhaltung der reinen Freudschen Lehre wachte.

Das Buch ist ein Schmöker über den Sex und das Selbst

Streckenweise nimmt der Autor in Kauf, dass der Text sich in die Länge zieht. Nichts wird ausgelassen. Neben den Ausschweifungen der Analytiker auf dem Monte Verità bei Ascona zählt der Autor die Suizide der Patientinnen auf – im Stakkato der Erzählung erhält beides fast dasselbe Gewicht.

Klar wird, die sogenannte Patientensicherung, also das Verhindern des Suizids, war kein Schwerpunkt des psychoanalytischen Programms. Der Leser erführe gerne Näheres. Doch dem Autor ist an dieser Stelle die Gesamtheit der historisch verbürgten Begebenheiten wichtiger als die Interpretation derselben. Er möchte eine umfassende Abhandlung bieten.

Zum unterhaltsamen Schmöker wird das Buch trotzdem. Denn der Autor strukturiert die Geschichte nicht etwa chronologisch, sondern entlang der wichtigsten Themen, mit denen die frühen Therapeuten das Erleben ihrer Patienten zu deuten suchten: das Selbst, der Sex, der Andere . . .

Der Leser kann mit jedem beliebigen Kapitel ins Buch einsteigen. Denn überall wartet der Autor mit Erklärungen auf, die die Denkweise der Männer konzise kontrastieren. So wird das Werk zum informativen Schmöker, den man immer wieder einmal zur Hand nimmt.

Und wer darauf verzichtet, ein Kapitel von A bis Z zu lesen, der findet mit «Seelenzauber» ein unterhaltsames Nachschlagewerk, in dem von Logotherapie bis Psychodrama die wichtigsten therapeutischen Strömungen auf unterhaltsame Weise erklärt sind.

Eine umfassende Abhandlung über die Anfänge von Therapie

Zugegeben, zuweilen sind die Ausführungen Ayans dann doch etwas gar langatmig. Wenn er etwa die aussereheliche Liebschaft eines James Watson beschreibt, dann macht das diesen als Menschen zwar fassbar. Doch die Episode illustriert in keiner Weise die Arbeit des Psychologen, der als einer von wenigen überhaupt eine Professur an einer Universität innehatte.

Als einem der ersten Verfechter der empirischen Psychologie lag Watson nichts ferner, als das subjektive Erleben des Menschen in irgendeiner Art zu deuten. Für ihn war Psychologie die Erforschung von Grundprinzipien, die, objektiv messbar, bei allen Menschen gleichermassen vorhanden sind.

Warum neben den wichtigen Psychotherapeuten auch der Esoteriker Rudolf Steiner und der Heidelberger Arzt und Marxist Wolfgang Huber in dieses Buch Eingang finden, bleibt ebenfalls unklar. Letzterer gründete das «Sozialistische Patientenkollektiv» und ging davon aus, dass Patienten gar keiner, die Gesellschaft hingegen einer grundlegenden Therapie bedürften. Für die Entwicklung der Psychotherapie hatte Huber schon damals keine Bedeutung.

Auch das Psychogramm von Rudolf Steiner, dem Begründer der Anthroposophie, beschreibt Ayan detailreich. Dieser war ebenfalls vor allem eines – ein autoritärer Guru. Als Einziger liess er sich schon zu Lebzeiten eine Statue bauen. Einem Messias gleich stand er überlebensgross da – nur, mit mahnendem Finger gegenüber seinen Untertanen.

Spätestens hier wird klar: Ayan wollte hoch hinaus mit seiner Arbeit. Nicht nur die Unterhaltung war das Ziel, er versucht, einen Klassiker zu schaffen, der alles umfasst, was im letzten Jahrhundert den sinnsuchenden Menschen im deutschsprachigen Raum an Lösungen geboten wurde.

Die «Eminenz» wird von der Evidenz abgelöst

Überzeugte Anhänger der Psychoanalyse dürften an diesem Buch keine Freude haben. Es entlarvt die Geheimniskrämerei, den Personenkult und den Narzissmus der frühen Psychologen.

Was das Buch inhaltlich zusammenhält, ist die grosse historische Klammer: Die Psychotherapie startete als Kult um geistige Führer und wurde zum Handwerk im Dienste des Patienten.

Heutige Psychologen verlassen die Universität, ohne von den frühen Psychotherapeuten je gehört zu haben. Für die empirische Psychologie sind sie schlicht irrelevant. Fast in jedem Kapitel erkennt der Leser, wie erbittert diese Entwicklung hin zur empirischen Psychologie von den frühen Psychologen bekämpft wurde.

Den wohl schwersten Schlag erlitt die frühe Psychotherapie schon 1958 durch den Briten Hans Eysenck. Von Buhrufen und Pfeifen begleitet präsentierte er seine empirischen Befunde zur Wirksamkeit von Therapie: Psychoanalyse hilft Patienten so gut wie gar keine Therapie. Einige von ihnen leiden sogar länger – möglicherweise gar wegen der Therapie? Eysencks Vortrag war eine Generalabrechnung.

«Wo käme man da hin, wenn die Wirksamkeit von Therapien wissenschaftlich belegt werden müsste», fasst Ayan die Reaktion der Seelenklempner zusammen. Ihre ganze Kunst war damit infrage gestellt. Das war vor mehr als siebzig Jahren.

Und endlich geht es um das Wohl des Patienten

Bis heute bleibt die frühe Seelenkunde ein manchmal bewusst zelebriertes Geheimnis. Bücher über Psychoanalyse und Gestalttherapie erklären menschliches Erleben innerhalb ihrer Modelle. Stimmt das nun? Und wenn ja, was ist dann mit allen anderen Therapien, die wie Pilze aus dem Boden schiessen? Das fragt sich der Laie ratlos.

Der Journalist Steve Ayan blickt von aussen auf die Therapie. Und ohne deren Fachsprache werden die Grundzüge von Psychotherapie plötzlich leicht durchschaubar.

Besonders erhellend ist schliesslich das letzte Kapitel von «Seelenzauber». Hier präsentiert der Autor seine eigene Deutung der Geschichte – gleichsam einen Entwicklungsroman der Psychotherapie. Süffisant bemerkt er, dass heutzutage Therapeuten vor allem Therapeutinnen seien.

Vielleicht sei das auch ein Grund, weswegen eine Therapie vor allem die Besserung psychischer Leiden im Auge habe – endlich. Das jedenfalls ist beruhigend zu wissen. Und der Leser ist froh, dass er nicht damals, zu Beginn des Jahrhunderts, die Hilfe der Seelenklempner suchen musste.

Steve Ayan: Seelenzauber. Aus Wien in die Welt. Das Jahrhundert der Psychologie. DTV-Verlag, München 2024. 397 S., Fr. 30.40.

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