Marco Odermatt wird wie in Bormio vom Franzosen geschlagen. Sarrazin hat im letzten Jahr intensiv an sich gearbeitet und mit 28 erstmals Abfahrtstrainings bestritten. Jetzt scheinen alle Blockaden gelöst.
Es brauchte einen Marco Odermatt, damit Cyprien Sarrazin überhaupt auf diese Idee kam. Das wäre doch ein schönes Duell um die Abfahrtskugel zwischen ihnen, habe Odermatt vergangene Woche in Wengen zu ihm gesagt, nachdem sie drei Tage hintereinander gemeinsam auf dem Podium gestanden waren. Da habe er, Sarrazin, gesagt: «Ja, wieso eigentlich nicht?»
Die Trophäe für den besten Abfahrer der Saison war für Sarrazin noch im November kein Thema gewesen, der 29-jährige Franzose schüttelte nur lächelnd den Kopf bei dem Gedanken. Zweimal war er im vergangenen Winter in den Top Ten gelandet, viermal im Netz. «Aber nun verbiete ich mir nicht mehr, zu träumen», sagt Sarrazin. Denn Sarrazin aus der Saison 2023/24 ist nicht Sarrazin aus der Saison 2022/23. Endlich fühlt er sich auch auf den Ski als der Mensch, der er im Leben ist.
Was Sarrazin nun auch ist: Kitzbühel-Sieger. Er gewinnt am Freitag am Hahnenkamm als erst dritter Franzose nach Jean-Claude Killy (1967) und Luc Alphand (1995 und 1997) die legendäre Abfahrt, erstaunlicherweise bloss ein Jahr nach seinem Debüt hier.
Er versuchte, bei den Trainern der grossen Klubs mitzuhören, was diese ihren Athleten erklärten
Den Grundstein dazu legte Sarrazin im Sommer 2022, als es mit seiner Riesenslalom-Karriere abwärts ging. In zwei Dritteln der Weltcup-Rennen in jener Disziplin hatte er bis dahin entweder das Ziel nicht erreicht oder sich nicht für den zweiten Lauf qualifiziert. Einmal gewann er einen Parallel-Event, einmal stand er im Riesenslalom auf dem Podest – und wusste nicht recht, weshalb es dort funktioniert hatte.
Da er ahnte, dass er im Super-G schnell sein könnte, schloss er sich dann für ein Trainingslager in Chile der Speed-Gruppe an und trainierte auch Abfahrt – ohne mit seinen 28 Jahren je ein Abfahrtstraining bestritten zu haben. Bereits im zweiten Lauf war er der Schnellste. Vielleicht sei das ja sein Weg, dachte er. Ja, wieso eigentlich nicht?
Sein Weg: das war als Kind schon gewesen, die schnellste Linie nach unten zu finden. In Gap in den Hautes-Alpes gross geworden, bestritt Sarrazin mit dem Mountainbike Downhill-Wettkämpfe. Diesen Sport liebt er heute noch, im Geschwindigkeitsrausch sucht er das beste Gefühl. Bis er 14 war, hatte er nicht im Skiklub trainiert, «vermutlich wäre mir dabei langweilig geworden», sagt er. Stattdessen fuhr er mit seinen Eltern frei Ski oder Snowboard und übte sich in Freestyle. Ab und zu nahm er an einem Rennen teil, als Einziger seines kleinen Skiklubs.
Da sein Vater als Trainer an anderen Rennen beschäftigt war, begleitete ihn seine Mutter zu Beginn seiner Skikarriere. Auf den Besichtigungen war er allein; er versuchte, bei den Trainern der grossen Klubs mitzuhören, was diese ihren Athleten erklärten. Und seine Mutter schaute links und rechts bei anderen ab, wie sie bei welchem Schnee die Ski präparierten. Irgendwann jedoch reichte diese Vorbereitung nicht mehr. Sobald Sarrazin seriös trainierte, ging es aufwärts.
Doch die ersten Jahre im Weltcup waren ein wilder Ritt. Die richtige Dosierung des Risikos gelang ihm selten. Er sei in einigen Rennen in gewissen Momenten ein wenig abwesend gewesen, sagte Sarrazin, privat ein eher ruhiger Zeitgenosse, der französischen Zeitung «Le Dauphiné». Für die schnellen Disziplinen brauche es Reife, diese habe er noch nicht gehabt. «Mir war nicht wohl mit mir, mit meiner Art, Ski zu fahren, ich machte mir Angst.»
In Kitzbühel vor einem Jahr wurde er in der ersten Abfahrt, im ersten Renneinsatz auf der Streif, Zehnter. In der zweiten Abfahrt stürzte er heftig. In vielen Situationen habe der Körper noch rechtzeitig Stopp gesagt, doch er verletzte sich vor den Heim-Weltmeisterschaften am Rücken und verpasste die Titelkämpfe in Courchevel/Méribel. Eine Verletzung, die die Weichen neu stellen sollte.
«Wie wenn Federer Nadal mit 6:0, 6:0, 6:0 geschlagen hätte»
Als er die WM vom Sofa aus verfolgte, sagte er sich: «Ich will mir nicht mehr Angst machen. Nicht mehr weh machen. Ich will, dass es mir gut geht.» Dazu hatte er sich schwer verliebt – und kam mit dem Ende dieser Liebe nicht klar. Am Tiefpunkt beschloss Sarrazin, die Hilfe eines Psychologen in Anspruch zu nehmen. Das war ihm zuvor schon empfohlen worden, aber da wollte er nicht, «ich habe unterschätzt, was für einen Einfluss das Mentale bei mir hatte.» Zudem arbeitete er mit einem weiblichen Energie-Coach, der seine inneren Blockaden lösen sollte.
Diese Arbeit an sich schlug so gut an, dass sich das bald auf sein Skifahren übertrug. Das Problem sei rein mental gewesen, sagte Sarrazin dazu, sein Trainer habe drei Monate lang nichts Technisches mehr bei ihm korrigieren müssen, «nicht ein Detail». Als er Ende Dezember nach Bormio kam, dachte sich Sarrazin, wenn er im Frühling den schlimmen Liebeskummer überwunden habe, würde er wohl auch dieses schwierige Rennen schaffen. Ebenfalls entscheidend war die Aussage des Psychologen von Sarrazin: «Erlaube dir, zu gewinnen!»
Drei Tage lang wiederholte Sarrazin für sich diese Worte – bis er daran glaubte, dass er die Spitze verdient hat. Und mit einer unfassbaren Fahrt bezwang er einen ebenso perfekten Marco Odermatt. Frankreichs Teamdirektor Frédéric Perrin schwärmt heute noch von jener Leistung, diesem ersten Abfahrtssieg eines Franzosen in Bormio seit 27 Jahren: «Für mich war das dieselbe Jahrhundertleistung, wie wenn Roger Federer an einem Grand-Slam-Turnier Rafael Nadal mit 6:0, 6:0, 6:0 bezwungen hätte.»
Ganz so unwiderstehlich war die Fahrt nun beim Sieg in Kitzbühel nicht, doch aggressiv wie immer – und «clever», wie Odermatt meinte. Der Lohn: Im Abfahrts-Weltcup trennen Sarrazin noch 26 Punkte vom Schweizer, der am Freitag Dritter wurde. Odermatt wird sein Duell um die Abfahrtskugel bekommen.
Kürzlich hat Sarrazin die Frau wieder getroffen, die ihm im Frühling den Liebeskummer beschert hatte. Er habe ihr gedankt, erzählt er. Schliesslich sei sie der Grund gewesen, weshalb er seine Probleme angegangen sei. Ja, wieso eigentlich nicht?