Dienstag, November 5

Ursprünglich als Mafiajäger und Korruptionsbekämpfer verehrt, gelten Italiens Justizbehörden inzwischen vor allem im rechten politischen Lager als Feindbilder. Der Streit um das Aufnahmezentrum für Migranten in Albanien ist symptomatisch.

Kommunisten, Ideologen, Propagandisten: Für Richter oder Staatsanwälte, die nicht nach der Pfeife der Regierung tanzen, finden Giorgia Meloni und einige ihrer Minister derzeit deutliche Worte. Auslöser des jüngsten Streits zwischen der Exekutive und der Judikative war der Entscheid eines Römer Gerichts, das die Festsetzung von Bootsmigranten in einem italienischen Aufnahmezentrum in Albanien für illegal erklärt hatte.

Das Gericht setzte damit ein zentrales Element der neuen italienischen Migrationspolitik ausser Kraft – ein Beschluss, den die Regierung nur vier Tage später mit der Verabschiedung eines Gesetzes konterte. Es sollte den Testlauf mit dem extraterritorialen Aufnahmezentrum juristisch wasserdicht machen. Doch kaum hatte die Regierung gesprochen, doppelte ein Gericht in Bologna nach. Es bat den Europäischen Gerichtshof um eine Klärung der strittigen Punkte und der Frage, ob in der Migrationspolitik europäisches Recht stets Vorrang vor nationalem Recht habe.

Seither fliegen die Fetzen. Ein Appell von Staatspräsident Sergio Mattarella zur Mässigung verpuffte wirkungslos. Am Wochenende ist die «Libra», ein Kriegsschiff der Marine, von Messina aus ins südliche Mittelmeer aufgebrochen. Es dürfte bald neue Bootsmigranten aufgreifen und nach Albanien führen. In der Folge wird es zu neuen Gerichtsentscheiden kommen – und zu neuen Polemiken.

Im Umfeld der Regierung wittert man ein Komplott und zählt alle anderen grösseren und kleineren Untersuchungen auf, die die Justiz derzeit gegen Mitglieder der Regierung oder Angehörige von Exponenten der Regierungsparteien am Laufen hat.

Besonders lautstark meldet sich der Vizeregierungschef Matteo Salvini zu Wort, der selbst gerade mit der Justiz zu tun hat. Vor einem Gericht in Palermo muss er sich wegen Freiheitsberaubung und Amtsmissbrauch verantworten. Salvini hatte im August 2019 als damaliger Innenminister einem NGO-Rettungsschiff die Einfahrt in den Hafen von Lampedusa verweigert. «Wenn ein Richter sich als Kommunist fühlt, dann soll er doch seine Robe ablegen und sich zur Wahl stellen», schrieb er auf X.

Ausgeprägte Autonomie

Die Auseinandersetzungen zwischen Politikern und der Magistratura – der Oberbegriff für Richter und Staatsanwälte im hiesigen Justizsystem – gehören zu den Konstanten der jüngeren italienischen Geschichte. Sie haben nur bedingt mit dem Aufkommen rechtspopulistischer Kräfte wie der Lega von Salvini zu tun, selbst wenn heute, wie in anderen europäischen Ländern auch, die heftigste Kritik an der Justiz von rechts kommt.

Die italienische Justiz verfügt als Folge der Erfahrungen mit dem faschistischen Regime über einen besonders ausgeprägten Grad an Autonomie und über weitreichende Kompetenzen, die in Europa ihresgleichen suchen. Die richterliche Unabhängigkeit gilt als einer der Hauptpfeiler der Verfassung.

Organisiert und kontrolliert wird die Tätigkeit der Staatsanwaltschaften und Gerichte durch den Consiglio Superiore della Magistratura (CSM), den obersten Justizrat. Zwei Drittel seiner Mitglieder werden von Richtern und Staatsanwälten gewählt, ein Drittel wählt das Parlament. Vorsitzender ist der Staatspräsident. Der CSM entscheidet nicht nur über die Karrieren seiner Mitglieder, sondern auch über Disziplinarfälle in den eigenen Reihen – was immer wieder zu berechtigter Kritik Anlass gibt.

Bis in die neunziger Jahre funktionierte das System einigermassen reibungslos. 1992 und 1993 erlebten die Magistrati den Höhepunkt ihrer Beliebtheit. In Mailand deckten der Staatsanwalt Antonio Di Pietro und seine Mitstreiter den Tangentopoli-Skandal auf, jene riesige Affäre um Schmiergelder, die das Parteiensystem der Nachkriegsjahre zum Einsturz brachte. Zeitgleich rüttelten die Attentate auf die Mafiajäger Falcone und Borsellino das Land auf.

Mutige Ermittler und Staatsanwälte waren die Stars der Stunde. «Sie verfügten in der öffentlichen Meinung über enorme Unterstützung», sagt Giovanni Orsina, Professor für Zeitgeschichte an der Luiss-Universität in Rom. Es bestand ein breiter Konsens darüber, dass gegen Korruption und organisierte Kriminalität hart vorgegangen werden musste. Dass der Kampf die lange tonangebenden Parteien pulverisierte, war ein Kollateralschaden, den man in Kauf nahm.

Gleichzeitig entstand aber ein politisches Vakuum. Besonders der Zerfall der Democrazia Cristiana (DC) wog schwer. Bürgerliche Wähler mussten nach einer neuen politischen Heimat Ausschau halten.

Es war die Stunde von Silvio Berlusconi. Der Mailänder Unternehmer stand bereit, um viele der verlorenen Seelen aufzunehmen. Auf den Trümmern des alten Systems baute er sein politisches Imperium und setzte sich an die Spitze der bürgerlichen Kräfte im Land. Er öffnete seine Partei, die Forza Italia, nach rechts und wurde so zur dominierenden politischen Grösse der folgenden Jahre.

«Es ist paradox», sagt Orsina. Ausgerechnet jener Mann, der später im Dauerclinch mit der Justiz gelegen habe, habe am meisten davon profitiert, dass Richter und Staatsanwälte das frühere System aus den Angeln gehoben hätten.

Giustizialisti contra Garantisti

Bald wurde die Justiz zur bevorzugten Zielscheibe des damaligen Cavaliere und von dessen Umfeld. Der Nimbus der neunziger Jahre war gebrochen.

Daran war die Justiz teilweise selbst schuld. Einzelne Richter und Staatsanwälte drängte es nun förmlich in die Politik, etwa den Tangentopoli-Star Antonio Di Pietro. Andere wollten über ihre Entscheide Einfluss auf die Politik nehmen, wie Orsina erklärt.

Die ausgeprägte Unabhängigkeit beförderte diese Tendenz. «Nicht nur die Justiz als Ganzes, auch der einzelne Richter oder Staatsanwalt fühlt sich ausserhalb jeglicher Kontrolle», so Orsina, «für ideologisch geprägte Magistraten ist das ein starker Anreiz, sich politisch einzubringen.» Tatsache ist aber auch, dass Berlusconi und die Seinen zunehmend Grauzonen betraten, ihre eigenen Geschäfte schützen wollten und damit das Eingreifen der Justiz geradezu provozierten.

Wo auch immer man die Gründe für den Gesinnungswandel gegenüber der Magistratura vermutet: Seit Mitte der neunziger Jahre ist die Justiz eine der grossen Kampfzonen der italienischem Politik. Dabei stehen sich Giustizialisti und Garantisti gegenüber.

Erstere sind die Anhänger einer strengen und manchmal summarischen Justiz, Letztere die Verfechter der individuellen Rechte und Garantien zum Schutz vor Übergriffen der öffentlichen Gewalt. Giustizialisti sind besonders zahlreich in den Reihen der serbelnden Fünf-Sterne-Bewegung, Garantisti im rechten Lager. Im sozialdemokratischen Partito Democratico und im politischen Zentrum wiederum sind beide Lager vertreten, die Giustizialisti etwas ausgeprägter. Aber es gibt auch hier nicht wenige, die sich auch zum anderen Lager zählen, etwa der frühere Ministerpräsident Matteo Renzi.

Die Bevölkerung ist derweil etwas ernüchtert über die Justiz. Zahlreiche gross aufgezogene Verfahren versanden oder enden unspektakulär. Die kürzliche Wiederwahl des rechten Bündnisses in Ligurien trotz aufsehenerregenden Korruptionsermittlungen gegen die frühere rechte Regionalregierung spricht Bände. Offensichtlich lassen sich die Wählenden nicht mehr allzu stark von flamboyanten Auftritten der Justizbehörden beeindrucken.

Dazu kommt, dass das byzantinische italienische Justizwesen mittlerweile als einer der Hauptgründe für die Stagnation des Landes gilt. Zusammen mit Griechenland und Malta hat Italien die langsamsten Justizverfahren in der EU. Der Reformbedarf ist längst erkannt, die EU ihrerseits macht Druck. Bis 2026 muss Italien die Verfahrensdauer in Zivil- und Strafsachen um mindestens 40 Prozent reduzieren, will das Land die Gelder aus dem Wiederaufbaufonds der EU nicht verspielen.

Das Schimpfen über die Justiz stösst so auf fruchtbaren Boden. Aber es ist nicht völlig unberechtigt. Vor allem eignet es sich hervorragend, um in bestimmten Kreisen politisch zu punkten.

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