Sonntag, Oktober 6

Der abrupte Chefwechsel bei Nestlé hat gezeigt, unter welchem Druck die Nahrungsmittelindustrie steht. Taugt das Geschäftsmodell der Branchenriesen noch für die Zukunft?

Als der Nestlé-Verwaltungsrat mit Laurent Freixe einen Veteranen auf den Chefposten setzte, gab es auch enttäuschte Stimmen. Enttäuscht darum, weil es in der Öffentlichkeit zuweilen fast schon eine Art gemeinsames Verständnis davon gibt, dass sich die Nahrungsmittelindustrie von Grund auf ändern müsse. Wie soll das ein Insider schaffen?

Nun lässt sich die Branche aber gerade nicht so kurzfristig umpflügen, wie eine Reihe von eben nur vermeintlichen Wahrheiten zeigt.

Irrtum 1: Hochverarbeitete Produkte haben keine Zukunft

Nach Zucker, Salz und Fett hat die Ernährungswissenschaft ein weiteres Problemfeld entdeckt, das angeblich negative Auswirkungen auf die Gesundheit hat: hochverarbeitete Nahrungsmittel. Dazu zählen vereinfacht gesagt Lebensmittel oder Getränke mit Zusatzstoffen, die man selber bei der Zubereitung zu Hause nicht verwenden würde. Beispiele sind Fertiggerichte, Schokolade, Chips oder Glace.

Diabetes, Darmerkrankungen oder gar Krebs werden mit hochverarbeiteten Lebensmitteln in Verbindung gebracht. Doch schon der Begriff «hochverarbeitet» ist umstritten: Es gibt nicht nur unterschiedliche Definitionen dieses Begriffs, sondern er umfasst so viele verschiedene Nahrungsmittel, dass allgemeingültige Aussagen schwierig sind.

Dennoch überlegen Regierungen in verschiedenen Ländern, wie man den Konsum von hochverarbeiteten Lebensmitteln einschränken könnte. Und es ist tatsächlich möglich, dass Auflagen für hochverarbeitete Produkte dereinst Herstellungsprozesse verteuern. Doch es gibt keinen Grund zur Annahme, dass diese Art von Lebensmitteln verschwindet.

Denn abgesehen davon, dass sie den Konsumenten schmecken, haben hochverarbeitete Produkte Vorteile: Sie sind länger haltbar, für den Vorrat geeignet – und so weniger anfällig für Lebensmittelverschwendung. Fertigprodukte, die typischerweise in diese Kategorie fallen, sparen den Konsumenten Zeit beim Einkaufen und Kochen.

Haltbarkeit und Zeitersparnis, das sind die Errungenschaften, aus denen die Nahrungsmittelindustrie entstanden ist: Henri Nestlé ermöglichte mit seinem «Kindermehl» Müttern eine rasche Zubereitung von Babynahrung. George Page verschickte von Cham aus Schweizer Kondensmilch in Dosen ins Ausland. Der Zusammenschluss der beiden Pionierfirmen legte die Basis für den Weltkonzern Nestlé.

Irrtum 2: Die Kunden wollen nur noch gesunde Produkte

Ein Branchenkenner bringt es folgendermassen auf den Punkt: «Es gibt drei Dinge, die Lebensmittel essenswert machen: Salz, Zucker und Fett.»

Doch unter Druck von neuen Vorschriften und gesundheitsbewussteren Konsumenten haben die grossen Nahrungsmittelkonzerne ihre Produktepalette überarbeitet und Zucker- und Salzgehalt verringert.

Aber dieser Sortimentsumbau stösst an Grenzen, wenn den Konsumenten die neuen Rezepturen nicht schmecken und die Produkte im Regal liegen bleiben. «Wir reagieren auf den Markt», heisst die interne Devise bei Nestlé. Es wird das hergestellt, was auch gekauft wird.

Das sagt man sich auch bei Mars. Nur weil der Konzern davon ausgeht, dass Konsumenten noch lange Zeit Chips essen, hat er eben erst für 30 Milliarden Dollar den Pringles-Hersteller Kellanova gekauft.

Ähnlich ist es mit Schokolade. In der Industrie ist man überzeugt, dass Konsumenten sich trotz erhöhtem Gesundheitsbewusstsein und Abnehmspritzen weiterhin Genussprodukte gönnen. Um ihnen den Entscheid leichter zu machen, haben die Hersteller mit kleineren Packungen reagiert.

Irrtum 3: Das grosse Geschäft sind trendige Produkte – wie zum Beispiel pflanzenbasierter Fleischersatz

Ein Nahrungsmittelkonzern muss die Entwicklung von Trends und Ernährungsgewohnheiten verfolgen. So kann das Unternehmen rechtzeitig auf Konkurrenz reagieren, seine Produkte anpassen oder gar in einem neuen Bereich Fuss fassen.

Doch die Lancierung eines neuen Produktes ist teuer, der Erfolg ungewiss. Darum ist es für einen Konzern oft lohnender, aus einer bestehenden Marke mehr herauszuholen. Zum Beispiel mit Marketing- oder Effizienzsteigerungsmassnahmen. In diese Richtung zielen deshalb die Ansagen des neuen Nestlé-Chefs Laurent Freixe.

Dazu kommt: Der allgemeine Hype und die Medienberichterstattung über das Thema fleischlose Nahrung lässt für neuartige Nahrungsmittel eine viel grössere Bedeutung vermuten, als sie tatsächlich haben.

Zur Veranschaulichung hilft ein Blick auf einen Zukauf von Nestlé im Jahr 2022. Orgain, ein Hersteller von pflanzenbasierten Protein-Shakes, machte damals ungefähr 400 Millionen Dollar Umsatz – das entspricht etwa 0,4 Prozent des Nestlé-Umsatzes von 93 Milliarden Franken. Bei diesen Grössenverhältnissen brauchte es auch bei hohen Wachstumsraten sehr lange, bis sich das auf Konzernebene spürbar auswirkt.

Die einzige Zahl, die Nestlé für den Umsatz mit Fleisch- und Milchersatzprodukten und als vegan ausgewiesener Nahrung bekanntgibt, sind 800 Millionen Franken im Jahr 2021. Das hat schlicht auch damit zu tun, dass pflanzlicher Fleischersatz ganz allgemein noch immer eine Nische ist.

Irrtum 4: Die Zukunft gehört den kleinen, neuen Marken

Solange die Tiefzinsphase anhielt, floss viel Geld in Startups aus dem Food- und Getränkebereich. Zum einen schaffte der Trend zu regionalen Produkten eine Nachfrage. Zum anderen wurde mit Influencer-Marketing in den sozialen Netzwerken plötzlich eine ganz andere Vermarktung möglich.

Allerdings ist ein grosser Teil dieser Firmen rasch wieder verschwunden, weil sie die Kosten für den Aufbau einer Marke nicht aufbringen konnten. Und die wirklich originellen und erfolgreichen wurden bald einmal von einem Konzern übernommen.

Wie wichtig Marken sind, zeigt sich im gegenwärtigen Umfeld mit einer zunehmend preisbewussten Kundschaft. Je stärker, ikonischer eine Marke ist, desto schwerer fällt es den Konsumenten, auf eine billigere Eigenmarke aus dem Supermarkt zu wechseln.

Kommt dazu: Hat ein Konzern bereits eine etablierte Marke, kann er unter dieser neue Varianten einführen. Das ist einfacher, als wenn er von null auf ein neues Produkt lancieren muss. Ein Beispiel ist Coca-Cola und das zuckerfreie Cola Zero. Bierkonzerne können sich mit alkoholfreien Varianten ihrer bestehenden Marken nach dem Trend richten.

Irrtum 5: Investoren geht Nachhaltigkeit über alles

Die grossen Lebensmittelkonzerne sind eine ideale Zielscheibe für Kritik aller Art – von der verschmutzten Umwelt über die Arbeitsbedingungen bis hin zu ungesunden Rezepturen. Neben Nichtregierungsorganisationen sind es auch Investoren, die bei den Konzernen auf Verbesserungen drängen.

Es hat sich allerdings gezeigt, dass das Thema Nachhaltigkeit längst nicht bei allen Investoren zuoberst auf der Agenda steht.

So haben etwa die Nestlé-Aktionäre im Frühjahr an der Generalversammlung einen Vorschlag von Aktivisten abgelehnt, der den Konzern zu einem gesünderen Sortiment verpflichten wollte. 88 Prozent der Anleger stimmten dagegen.

Eine Gegenreaktion gab es diesbezüglich bei zwei Nestlé-Konkurrenten. Sowohl bei Unilever als auch Danone mussten Konzernleiter abtreten, die das Nachhaltigkeitsthema zur Chefsache gemacht hatten. In beiden Fällen hatten Investoren klargemacht, dass für sie andere Prioritäten im Vordergrund stehen.

Fazit: Die Realität ist langweiliger

So abrupt der Wechsel an der Nestlé-Spitze gewesen sein mag: Das Portfolio der Food-Riesen verändert sich nicht schlagartig.

Selbst bei einer bahnbrechenden Erfindung wie den Nespresso-Kapseln brauchte es viele Jahre, bis der Konzern damit gutes Geld verdiente – nicht zuletzt, weil man sich intern lange lieber auf das etablierte Produkt Nescafé verlassen hat.

Big Food wird sich weiterhin anpassen. Gut möglich, dass nach dem Mars-Kellanova-Deal noch weitere Transaktionen von Firmen oder Unternehmensteilen folgen werden. Die Neuerungen im Sortiment werden jedoch auch künftig eher graduell und unspektakulär sein – ganz einfach, weil auch die Konsumenten ihre Gewohnheiten nicht so schnell ändern.

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