Montag, August 11

Die Massenproteste gegen Alexander Lukaschenko, die vor fünf Jahren Millionen von Weissrussen auf die Strasse trieben, waren nicht erfolgreich, doch haben sie das Land fundamental verändert. Auch wenn es an Hoffnung fehlt, Europa darf nicht wegschauen.

Die Stirn ist blutverschmiert, Blut läuft aus einer Wunde am Ohr den Hals herunter. Im Blick der jungen Frau steht der Schock, die Erschütterung. Kurz zuvor ist eine Blendgranate in ihrer Nähe explodiert, welche Spezialeinheiten der Miliz in die Menschenmenge schossen. Splitter haben sie am Kopf getroffen.

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Zusammen mit Freunden war die damals 19-jährige Maryja Saizawa am 9. August 2020 aus ihrer Heimatstadt Gomel im Südosten von Weissrussland nach Minsk gefahren. Sie wollte dabei sein, wenn ihre Landsleute durch die Strassen der Hauptstadt ziehen, um ihrer Wut auf das Lukaschenko-Regime Luft zu machen. Das Foto, das die Studentin blutüberströmt an jenem Sonntagabend der Präsidentschaftswahlen zeigt, wurde zum Symbol eines Widerstands, der alles veränderte – für Maryja Saizawa, für Millionen von Weissrussen und für Weissrussland. Seit jenem Sommer vor fünf Jahren ist nichts mehr, wie es war in dem Land zwischen Russland und Polen.

Friedlich und kreativ

Nach fünfundzwanzig Jahren Diktatur hatten die Weissrussen Mut gefasst und gegen Lukaschenko aufbegehrt, friedlich und kreativ demonstrierten sie in einem beispiellosen Akt ihren Willen zur politischen Selbstermächtigung. Die weissrussische Gesellschaft, die bis dahin als schwer mobilisierbar galt, sorgte für einen historischen Aufbruch, an den niemand geglaubt hatte, am wenigsten wohl sie selbst.

Bis Oktober 2020 nahmen mindestens anderthalb Millionen Menschen an den Protesten teil, eine gewaltige Menge für ein Land mit 9,2 Millionen Einwohnern. Sie protestierten für faire und freie Wahlen, gegen die ausufernde Gewalt, mit der Lukaschenkos Machtapparat versuchte, den Aufstand niederzuschlagen. Tatsächlich aber war dieses Aufbegehren noch viel mehr. Es war eine «Revolution des Bewusstseins», wie der polnische Philosoph Andrzej Gniazdowski sagt, ein Aufstand gegen die eigene Angst und Lethargie, gegen das Wegducken, das man in einem autoritären System eingetrichtert bekommt, ein Aufstand für das Füreinander-Eintreten, auf dem demokratische Gemeinwesen gründen. Das Glück der Einheit konnte man in den Augen der Menschen sehen, die damals protestierten.

Letztlich bedeutete die Revolte aber auch ein Bekenntnis zur europäischen Identität, auch wenn dies damals in den Forderungen der Anführer um Swjatlana Zichanouskaja nicht dezidiert artikuliert wurde. Schliesslich wollte man Putin, der damit drohte, Truppen gegen die Demonstranten zu schicken, nicht zu sehr reizen.

Das Meer aus weiss-rot-weissen Fahnen war das unübersehbare Symbol dieses Bekenntnisses. Die historischen Farben stehen für den Unabhängigkeitskampf der Weissrussen gegen das russische Kaiserreich, das sich die weissrussischen Gebiete bis Ende des 18. Jahrhunderts infolge der Teilungen der polnisch-litauischen Adelsrepublik vollständig einverleibte, von da an jegliche kulturelle Emanzipation unterdrückte und eine Identitätsformung im eigenen Sinne forciert hatte.

In Anbetracht von Unterdrückung, Krieg und Terror konnte sich die europäisch-weissrussische Identität der Weissrussen niemals durchsetzen, sie verschwand aber auch nicht, sondern zeigte sich auch gegen den übermächtigen russisch-sowjetischen Einfluss äusserst robust.

Die Kämpfe um Deutungshoheiten und Narrative, um Kulturen und Identitäten wurden auch unter den schwierigen Bedingungen des Lukaschenkoschen Autoritarismus weitergefochten – von einer quicklebendigen Zivilgesellschaft und einer findigen Kulturelite. Dazu gehörte auch, dass sich die weissrussische Sprache gegen die Unterdrückung durch ein Regime behaupten musste, das Russland die Dominanz des Russischen garantierte – im Austausch für billiges Öl und Gas und günstige Kredite.

Ungleiches Ringen

Das ungleiche Ringen um kulturelle und identitäre Einflusssphären erhielt in westlichen Gefilden so gut wie keine Beachtung, wo man Weissrussland ohnehin für eine unvollkommene, dem Zerfallsprozess der Sowjetunion entsprungene, ohnehin irgendwie russisch geartete Nation hielt.

Der Erste, der diesen Auseinandersetzungen, aber auch den faszinierenden Diskursen zu den verschüttgegangenen Kulturbeziehungen in dem ostmitteleuropäischen Dazwischenraum auf publizistischer Ebene grössere Aufmerksamkeit verschaffte, war der Österreicher Martin Pollack mit seinem Sammelband «Sarmatische Landschaften» im Jahr 2006. Das Nachdenken über Identität und Kultur als Teil einer nationalen Selbstbestimmung, wie es in Weissrussland und der Ukraine als überlebenswichtig erachtet wurde, galt westlichen Intellektuellen als rückwärtsgewandt.

Die erstaunliche Kraft der Umwälzung im Jahr 2020 zeigte sich schliesslich auch darin, dass die weiss-rot-weisse Flagge bei den Protesten nicht als Symbol für althergebrachte nationalistische Konzepte des 19. Jahrhunderts stand. Sie selbst hatte eine Evolution durchlaufen und wurde zum Symbol für eine staatsbürgerlichere Form der Emanzipation. Im Moment des Protests ging es der neuen Bewegung um Solidarität und Selbstorganisation als Teil einer grösseren Sehnsucht: der nach nationaler Selbstbestimmung.

So wähnte man sich in jenem Wundersommer für einen Moment wieder in den Wendejahren 1989/90, die ebenfalls neue Denk- und Kontakträume und Verbindungen zwischen dem vergessenen Osten und dem alten Europa aufstiessen. Alles schien möglich, die Hoffnung war grenzenlos und das «Leben in Wahrheit» die Forderung der Stunde, wie es Vaclav Havel ausdrückte. Wie sich die weissrussische Protestbewegung im Falle von tatsächlich demokratischen Wahlen politisch ausdifferenziert hätte, steht auf einem anderen Blatt. So weit ist es, wie wir wissen, bis heute nicht gekommen.

Dieses Streben nach Selbstbestimmung und Unabhängigkeit – letztlich das Ringen um das Wesen Europas an der geistig-kulturellen Scheide zwischen West und Ost – ist eine tief existenzielle Erfahrung. Das kann man in der Ukraine sehen, die sich mit enormer Widerstandskraft der Vernichtung durch Russland widersetzt, aber eben auch bei den Weissrussen, deren Schicksal und Leiden kaum noch beachtet wird. Auch sie kämpfen – nun allerdings vor allem im Exil – für das Überleben ihres Staates und das Versprechen, ihrer europäischen Identität doch irgendwann zu Geltung verhelfen zu können. Weissrussland, das für Untertanentum und Fremdherrschaft steht, soll, so der grosse weissrussische Traum, der Vergangenheit angehören.

Das Lukaschenko-Regime, das sich als Bewahrer des russisch-sowjetischen Identitätsmodells in Weissrussland sieht, bekämpft diesen Traum seit 2020 mit brutaler Gewalt. Mindestens 60 000 Menschen wurden seitdem festgenommen, die Zivilgesellschaft zerstört, das Land wurde in ein Quasi-Gefängnis verwandelt, rund 600 000 Weissrussen mussten fliehen, unter ihnen die gesamte proaktive und Europa zugewandte Kulturelite.

Unbedingte Unterstützung der Ukraine

Diese düstere Entwicklung war nur möglich, weil Lukaschenko für seinen Machterhalt die Abhängigkeit vom Kreml so massiv verschärfte, dass er sich selbst und Weissrussland in eine Falle manövriert hat – die Souveränität des Landes ist heute ernsthaft bedroht, damit auch die Aussichten auf eine künftige Demokratisierung. Russland hat seinen ideologischen Zugriff in Weissrussland, der bis 2020 von unabhängigen Medien, Zivilgesellschaft, Kulturschaffenden oder Intellektuellen eingehegt wurde, ungehindert ausweiten können.

So weit, dass sogar Kastus Kalinouski aus Geschichtsbüchern und der Erinnerung getilgt wird. Bis 2020 galt der Anführer des Aufstands von 1863/64 gegen das Zarenreich sogar dem Regime als leuchtendes Symbol der Unabhängigkeit. 2022 hat sich eine Einheit freiwilliger weissrussischer Kämpfer, die aufseiten der Ukraine auch für ihre Unabhängigkeit kämpfen, nach Kalinouski benannt. Diese Einheit erklärte Lukaschenkos Repressionsapparat zur «terroristischen Organisation».

Die unbedingte Unterstützung der exilierten Weissrussen für die Ukraine entspringt der historischen Erfahrung mit Russland und ihrem Wissen über ein Regime, das als bereitwilliger Vollstrecker des Kreml der weissrussischen Gesellschaft ihren Protest- und Freiheitswillen austreibt. In Europa hat man es lange verpasst, den Weissrussen zuzuhören, wie man es verpasst hat, die Ukrainer in ihren Sorgen und Kämpfen ernst zu nehmen. Es muss das Gebot der Stunde sein, nun auch die aus Weissrussland exilierten Zivilgesellschafter, Autoren, Künstler und Wissenschafter zu unterstützen, ihren Kampf nicht zu vergessen. Wenn Europa die Ukraine und Weissrussland verliert, wird es sich auch selbst verlieren.

Eine junge Frau wie Maryja Saizawa hat diese existenzielle Bedrohung begriffen. Als hätte der Splitter der Blendgranate ihren Körper und ihren Verstand infiziert. Durch die Splitter war sie für immer gezeichnet – zwei grosse Narben unterhalb der rechten Schläfe, auf dem rechten Ohr war sie nahezu taub, zudem hatte sich an einer Stelle ihres Gehirns ein Hämatom entwickelt. Als Russland die Ukraine von allen Seiten attackierte, zögerte sie nicht. Sie schloss sich der Zweiten Internationalen Legion an und wurde Scharfschützin. Am 17. Januar 2025, einen Tag nach ihrem 24. Geburtstag, kam sie bei Kämpfen in der Nähe von Bachmut ums Leben. In einem Interview vor ihrem Tod sagte sie: «Ich hoffe wirklich, dass all die Opfer – meine und die der anderen – nicht umsonst waren.»

Ingo Petz beschäftigt sich als Journalist und Autor seit Jahrzehnten mit Weissrussland und Osteuropa. Seit 2020 leitet er die Weissrussland-Redaktion beim deutschen Medienportal dekoder.org. Sein jüngstes Buch, «Rasender Stillstand: Belarus – eine Revolution und die Folgen», ist in der Edition Fototapeta erschienen.

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