Mittwoch, November 27

Nach dem fatalen Sturz von Muriel Furrer an den WM in Zürich wächst die Kritik an der UCI. Präsident David Lappartient lässt Dialogbereitschaft vermissen. Manche hoffen auf seinen Abschied.

An diesem Dienstag, zwölf Tage nach dem tödlichen Sturz der Schweizer Nachwuchsfahrerin Muriel Furrer an den Rad-WM, starteten einige der weltbesten Veloprofis am italienischen Rennen Tre Valli Varesine. Die Szene schien ohne Innehalten zum Alltag zurückzukehren. Doch dann passierte etwas Ungewöhnliches. Die Fahrer brachen die Veranstaltung unterwegs ab. Wegen sintflutartiger Regenfälle hatten sich auf den Strassen Bäche gebildet, die Steine und Schlamm mitrissen.

Die Episode war aufschlussreich. Fachleute diskutieren in diesen Tagen, wie der Radsport sicherer gemacht werden könnte, doch manchmal genügt gesunder Menschenverstand. Ein schwerer Sturz wäre bei den Bedingungen eine Frage der Zeit gewesen. Und doch war beim Weltverband UCI niemand bereit, den Abbruch zu verkünden, es brauchte eine Revolte der Fahrer.

Forderungen nach Paradigmenwechsel wie in der Formel 1

In schockierender Kadenz wurden in letzter Zeit die Gefahren des Radsports offensichtlich. Im Juni 2023 starb Gino Mäder nach einem Sturz an der Tour de Suisse, vor wenigen Tagen erlag Muriel Furrer ihren Verletzungen. In der Schweiz wird vor allem über diese beiden Fälle gesprochen, doch in der kurzen Zeitspanne dazwischen passierten gleich drei weitere fatale Unfälle. Im Juli 2023 kam der italienische Nachwuchsfahrer Jacopo Venzo an der Oberösterreich-Rundfahrt ums Leben, im August 2023 der Niederländer Marc van der Wielen an einem Amateurrennen in Nettetal, im Juli 2024 der Norweger André Drege an der Österreich-Rundfahrt.

Immer lauter werden die Forderungen nach einem Paradigmenwechsel ähnlich weitreichender Natur wie in der Formel 1 nach dem Tod Ayrton Sennas 1994. Die oberste Motorsportklasse ist heute deutlich sicherer. Doch sie steht unter der Kontrolle eines Konzerns, was weitreichende Änderungen erleichterte. Die Regularien des Radsports sind Sache des Weltverbandes UCI. Vieles, was dort passiert, lässt sich mit der wechselhaften Agenda des Präsidenten David Lappartient erklären.

Als der Franzose 2017 ins Amt kam, war er in der Szene ein Unbekannter. Als wolle er das möglichst schnell ändern, sprach er zunächst ungewöhnlich offen über seine Pläne und Ideen. Journalisten, die ihn anriefen, erhielten pointierte Zitate. Lappartient wirkte bisweilen, als sei ihm die Wucht seiner Worte nicht bewusst. Dann folgte ein radikaler Schwenk. Einhergehend mit einem Personalwechsel an der Spitze der UCI-Medienabteilung wurde der heute 51-Jährige in der Aussendarstellung äusserst defensiv.

Am Tag nach Furrers Tod trat Lappartiert in Zürich vor die Presse. Die wesentliche Botschaft des 51-Jährigen lautete, vor jedweden Konsequenzen sei der Ausgang der Ermittlungen abzuwarten. Es war, als sträube sich der Funktionär gegen eine offene Diskussion über Sicherheitsfragen. Dabei liegt eine mögliche Lehre aus Furrers verzögerter Bergung auf der Hand: Mit GPS-Trackern an sämtlichen Velos wäre für die Rennleitung schneller feststellbar, wenn eine Fahrerin oder ein Fahrer stürzt und sich nicht mehr fortbewegt.

Lappartient wirkte in Zürich, als wolle er Zeit gewinnen. Er strebt nach dem Präsidentenamt beim Internationalen Olympischen Komitee. In diesen Wochen startet ein Wahlkampf, in dem er um den Eindruck bemüht sein dürfte, den eigenen Laden im Griff zu haben. Basisdemokratische Prozesse sind eher ein Störfaktor. Die Verantwortung für die Aufarbeitung auf die Staatsanwaltschaft abzuwälzen, kann auch eine Hinhaltetaktik sein.

Eisern verteidigt die UCI unterdessen Haltungen, die Lappartient während seiner längst vergangenen Transparenzoffensive propagierte, als wäre ein Umdenken eine Niederlage. Der NZZ sagte er beispielsweise Anfang 2018: «Ich bin kategorisch gegen die Kommunikation über Ohrstöpsel im Radsport.» Er und seine Vertrauten halten seitdem an der Maxime fest.

Sportliche Leiter können ihren Fahrern über Funk taktische Anweisungen erteilen, aber auch auf Gefahren hinweisen und über Unfälle informieren. Dass Furrer nach ihrem Sturz schneller geholfen worden wäre, hätte es den Kommunikationskanal in ihrem Rennen gegeben, ist nicht erwiesen. Dennoch plädiert der WM-Organisator Olivier Senn vehement dafür, dass die Ohrstöpsel an globalen Titelkämpfen erlaubt werden.

Senn sagt: «Funkverbindungen zwischen Fahrern und sportlichen Leitern machen Radrennen sicherer. Wer das Gegenteil behauptet, verfolgt andere Absichten.» Natürlich reduzierten sie die prinzipiell wünschenswerte Unberechenbarkeit, man müsse also eine Güterabwägung vornehmen. Für ihn sei jedoch klar, dass die Sicherheit oberste Priorität habe. Es sei dringend geboten, Massnahmen zu diskutieren und umzusetzen, um den Radsport sicherer zu machen. «Bis jetzt vermisse ich bei der UCI die Konsequenz», so Senn, «sämtliche zur Verfügung stehenden technischen Möglichkeiten zu nutzen.»

Vielversprechende Instanz zur Arbeitsgruppe degradiert

Wie verhärtet die Fronten sind, zeigte sich im August an der Polen-Rundfahrt, wo das Funkverbot zu Testzwecken auch an einem World-Tour-Rennen galt. Nach mehreren Stürzen kritisierte Richard Plugge, der Chef des niederländischen Erfolgsteams Visma, die UCI für die Massnahme. Es sei ein Chaos entstanden, schrieb er auf der Plattform X.

Lappartient schlug zurück. Er warf Plugge die Verbreitung von Fake News vor, die Stürze hätten nichts mit fehlenden Funkverbindungen zu tun gehabt. Für einen kurzen Moment trat der UCI-Präsident wieder so impulsiv auf wie zu Beginn seiner Amtszeit. Später stellte sich heraus, wer in Polen der führende Rennkommissar gewesen war: Lappartients Bruder Jérôme.

Vor etwas mehr als einem Jahr, unter dem unmittelbaren Eindruck des Todes von Gino Mäder, hatten Lappartient und Plugge noch gemeinsam eine vielversprechende Initiative lanciert: Sie beschlossen in Bilbao die Gründung der Instanz Safe Roadcycling (SafeR). Diese sollte sämtliche Unfälle untersuchen und Konsequenzen ableiten.

Warum sich das Gesprächsklima seitdem so sehr verschlechtert hat, erklärt ein desillusionierter Plugge am Telefon. «Es ist eine traurige Entwicklung», sagt er. Alle Beteiligten seien sich einig gewesen, dass SafeR vollständig unabhängig agieren müsse, losgelöst von der UCI. Nur dann wäre die Instanz in der Lage, unpopuläre Entscheide wie Rennabsagen durchzusetzen, so der Teamchef. Doch letztlich sei sie zu einer Arbeitsgruppe des Weltverbandes degradiert worden, der offenbar einen Kontrollverlust fürchtete. Was bei SafeR passiere, sei nun stets politisch.

Die kursierenden Vorschläge sind vielfältig: Reduzierung des Tempos über Anpassungen an den Velos, Höchstgeschwindigkeiten in Abfahrten, Airbags und Rückenpolster, bessere Helme, kleinere Felder, Matten am Strassenrand, Vermeidung heikler Passagen. Plugge hält wenig davon, über einzelne Ideen basierend auf anekdotischen Erfahrungen und persönlichen Präferenzen zu diskutieren. Er sagt: «Gefragt ist eine nüchterne Datenanalyse. Wenn eine unabhängige Organisation sämtliche Informationen sammelt, kann sie gute Vorschläge liefern.»

Die UCI-Medienstelle reagiert auf einen Fragenkatalog mit einer gebündelten Antwort. Zunächst teilt sie mit, Furrers Tod sei ein immenser Schock gewesen, und spricht Angehörigen, Freunden sowie Swiss Cycling ihr Beileid aus. «Wir möchten wiederholen, dass Sicherheit eine absolute Priorität für die UCI ist», heisst es weiter. Das belege die Gründung von SafeR. Es folgt ein Verweis auf bisher beschlossene Regeln, etwa die Einführung gelber Karten. SafeR studiere sämtliche Faktoren, die zur Sicherheit beitragen könnten. Man bewege sich in die richtige Richtung.

Konkrete neue Massnahmen werden in der Stellungnahme nicht angekündigt. Bezüglich der Forderung nach GPS-Trackern schreibt die UCI, diese ermöglichten es bis jetzt nicht, Fahrer «zu sämtlichen Zeitpunkten» zu lokalisieren. Man werde sich Verbesserungen der Technologie anschauen. Während der Ermittlungen der Schweizer Behörden wolle man sich nicht weiter äussern.

Zyniker aus der Radsportszene äussern mittlerweile die Hoffnung, dass Lappartient im März 2025 tatsächlich zum IOK-Präsidenten gewählt wird. Nach seinem Wechsel ins oberste Gremium des Weltsports, so ihre Argumentation, wäre bei der UCI der Weg frei für einen Neuanfang.

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