Mittwoch, Oktober 2

Der gewaltsame Tod eines Rumänen im September 2018 in Samstagern bleibt ungesühnt. Ein 37-jähriger Landsmann ist erneut freigesprochen worden und erhält 200 000 Franken Entschädigung.

Am Morgen des 3. September 2018 wurde in einer Arbeiterunterkunft in Samstagern die Leiche eines rumänischen Bauarbeiters gefunden. Der Mann war mit mindestens 10 Messerstichen im Schlaf niedergemetzelt worden. Die Tatwaffe ist bis heute verschwunden. Die Polizei verhaftete einen heute 37-jährigen damaligen Arbeitskollegen und Kindheitsfreund des Getöteten unter dringendem Tatverdacht.

Am Vorabend hatten sich die beiden Rumänen im Wohnbereich der Werkstatthalle stockbetrunken gestritten. Dabei fielen Beleidigungen. Von einem Teil dieses Streits gibt es Handyvideos. Danach prügelten sich die beiden Männer blutig. Der Staatsanwalt geht von einem Racheakt in der darauffolgenden Nacht aus.

Das Bezirksgericht Horgen verurteilte den Rumänen im Mai 2021 wegen Mordes zu einer Freiheitsstrafe von 14 Jahren. Im Berufungsprozess sprach das Obergericht im Dezember 2022 den Beschuldigten in zweiter Instanz aber überraschend frei. Er wurde «mangels dringenden Tatverdachts» sofort auf freien Fuss gesetzt und erhielt eine Genugtuung von 201 760 Franken für 1552 Tage zu Unrecht verbüsster Haft. Der Freigesprochene reiste umgehend nach Rumänien aus.

Das Bundesgericht hob den Freispruch allerdings im Oktober 2023 auf und wies den Fall zur Neubeurteilung ans Obergericht zurück. Insbesondere wurde die nochmalige unmittelbare Befragung eines dritten Bauarbeiters als Zeuge vor Gericht verlangt, der beim Streit am Vorabend der Bluttat anwesend gewesen war.

Freies Geleit für den Beschuldigten

Der Beschuldigte ist tatsächlich aus Rumänien zum neuerlichen Prozess angereist. Ihm war freies Geleit zugesichert worden. Allerdings verweigerte er im Gerichtssaal – wie schon bei den beiden vorhergehenden Gerichtsverhandlungen – jegliche Aussage, sowohl zur Sache als auch zur Person.

Personen, denen freies Geleit zugesichert wird, können in der Schweiz wegen Handlungen oder Verurteilungen aus der Zeit vor ihrer Abreise nicht verhaftet oder anderen freiheitsbeschränkenden Massnahmen unterworfen werden.

Und so erzählt der heute 44-jährige dritte Bauarbeiter als Zeuge nach sechs Jahren nochmals, was an jenem Abend und Morgen bis zum Auffinden der Leiche geschehen war. Gemäss dem Staatsanwalt handelte es sich bereits um die sechste Befragung dieses Hauptzeugen.

Die Gerichtsdolmetscherin hatte am Bezirksgericht Horgen Mühe, das Lallen der betrunkenen Protagonisten auf den Handyvideos zu verstehen, und erklärte damals: «Es klingt fast nicht mehr nach der rumänischen Sprache.» Inhaltlich gehe es unter anderem um sexuelle Praktiken mit der Mutter des jeweils anderen.

Bei der Schlägerei aufgrund der vorangegangenen Beleidigungen soll der später getötete Mann dem Beschuldigten rund zehn Faustschläge auf den Kopf versetzt haben. Der Zeuge wiederholt am Obergericht, dass der Beschuldigte wörtlich gedroht habe: «Pass auf, du wirst schon sehen.»

Dann habe sich sein Gegner in die Küche zurückgezogen. Am nächsten Morgen sei die Küche abgeschlossen gewesen – von aussen, wie die Untersuchungsbehörden feststellten. Er und ein Kollege hätten die Küche aufgebrochen, erzählt der Zeuge, und den Kollegen in einem Leintuch auf dem Sofa tot aufgefunden. Er sei bereits «lilafarben» gewesen. Alle seien schockiert gewesen. Der Beschuldigte habe aber nur gelacht und gesagt, er habe nichts gemacht, sich abgewendet und nicht mit den anderen gesprochen.

In ihrer Befragung treten die Richterinnen und Richter gegenüber dem Zeugen, dessen Aussagen von einem Dolmetscher übersetzt werden, ungewöhnlich aggressiv auf und halten ihm immer wieder angebliche Widersprüche vor.

Wäre ein argloser Zuschauer ohne Vorkenntnisse im Gerichtssaal anwesend gewesen, hätte er wohl gemeint, es handle sich beim Zeugen um den eigentlichen Beschuldigten.

Kritik an der Art der Befragung durch das Obergericht

Sowohl der Staatsanwalt als auch der Privatklägeranwalt kritisieren in ihren Plädoyers diese Art der Befragung. Der Staatsanwalt hält fest, er habe es am Gericht noch nie erlebt, dass ein Zeuge dermassen in ein Kreuzverhör genommen worden sei. Das Gericht habe regelrecht versucht, ihn in Widersprüche zu verwickeln. Der Anwalt der Privatklägerfamilie erklärt, das Gericht habe dem Zeugen sogar zeitliche Abläufe falsch vorgehalten, um ihn zu verwirren.

Der Staatsanwalt beantragt die erneute Verurteilung und listet sechs Indizien auf, die für die Täterschaft des 37-Jährigen sprechen: Erstens ein nachvollziehbares Motiv. Zweitens die mündliche Androhung von Rache. Drittens die Ankündigung des Tötungsdelikts in einem Video-Chat in derselben Nacht gegenüber seiner damaligen Freundin.

Der Beschuldigte soll in der Tatnacht seiner Freundin in Rumänien eine Chat-Nachricht mit dem Wortlaut gesandt haben: «Wenn ich morgen nicht Antwort gebe, habe ich jemanden umgebracht.»

Viertens der Besitz einer geeigneten Tatwaffe in der Form eines Schwerts, das nach der Tat verschwunden war. Fünftens DNA-Spuren des Beschuldigten am Leintuch bei einer Einstichstelle. Und sechstens «das merkwürdige und völlig unnatürliche Verhalten» des Beschuldigten beim Auffinden der Leiche.

Der Beschuldigte sei eindeutig der Täter. Alles andere wäre ein Justizirrtum gegenüber den Hinterbliebenen, sagt der Staatsanwalt.

Der Verteidiger beantragt die Bestätigung des Freispruchs. Er argumentiert unter anderem, es gebe überhaupt keine Beweise für ein angebliches Videogespräch um 3 Uhr nachts zwischen dem Beschuldigten und dessen Freundin. Die Aussagen dieser Freundin seien widersprüchlich und wertlos. Sie leide unter einer Psychose.

Im Zweifel für den Angeklagten

Das Obergericht spricht den Beschuldigten erneut frei, weist die Genugtuungsbegehren der Familienangehörigen des Opfers ab und spricht dem 37-jährigen Rumänen wieder 201 760 Franken Entschädigung zu. Ein Motiv sei zwar vorhanden. Die angebliche Drohung beruhe aber nur auf der zweifelhaften Aussage des 44-jährigen Zeugen, der nicht glaubhaft ausgesagt habe, auch im Hinblick auf das angebliche Nachtatverhalten des Beschuldigten.

Auch die damalige Freundin sei keine zuverlässige Auskunftsperson, es gebe Zweifel, ob das Telefongespräch überhaupt stattgefunden habe. Das Tatwerkzeug fehle. Jeder habe im Prinzip Zugang zu Messern. Wie die DNA ans Leintuch gekommen sei, bleibe unklar. Es blieben «Zweifel, Zweifel, Zweifel», resümiert der vorsitzende Oberrichter. Deshalb müsse der Beschuldigte erneut freigesprochen werden.

Urteil SB230578 vom 3. 7. 2024, noch nicht rechtskräftig.

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