Der Schweizer Ausstellungsmacher lüftet in einem Buch sein Geheimrezept: Mach dir die Künstler zu Freunden.

Das Cover des Buches zeigt einen modisch gekleideten Mann mittleren Alters, gekleidet mit einer weich gepolsterten, beigefarbenen Jacke, einer Cargohose sowie klobigen weissen Schuhen. Sein Oberkörper ist über ein geöffnetes Kopiergerät gebeugt, der Blick hinter der dicken schwarzen Brille geht Richtung Glasplatte, der Zeigefinger der rechten Hand drückt soeben auf den Knopf, der den Scanner in Gang setzen wird. Das Porträt von Hans Ulrich Obrist stammt vom Fotografen Lukas Wassmann und besitzt die Züge eines Slapsticks. Auch erinnert es an eine verdrehte Erwin-Wurm-Skulptur.

Dass das Bild dem ernsthaften Inhalt des Buches entspricht, lässt sich bezweifeln. Ein Bezug zur vorgelegten Autobiografie ergibt sich aber vielleicht aus folgender Lesart: Hier entleert ein Autor seinen Kopf, indem er sich selber mithilfe einer Maschine vervielfältigend porträtiert und dabei von einem Fotografen beobachtet wird. Eine Art Closed Circuit, der den seriösen Rundumblick auf das eigene Leben als Bildwitz kontert.

Mag sein, dass eines der Geheimnisse seines Erfolgs als Kurator in der Devise, selten etwas Negatives zu sagen, liegt. Indem Obrist bevorzugt das Positive betont, erlöst er die Kunstwelt von allerlei Bedenken. Vermutlich kommt noch eine Portion diplomatisches Schweigen in Form des Nichtstellungnehmens hinzu.

Hans Ulrich Obrist (geb. 1968) jedenfalls erwähnt in seinem neuen Buch «Ein Leben in progress» diese Strategie, die ihn deutlich von einem Kritiker unterscheidet. Man könnte es für ein Ausweichen vor einer Stellungnahme halten, aber angesichts der Fülle von Kunstwerken, die er ausstellt, und der Vielzahl von Kunstschaffenden, mit denen er befreundet ist, bleibt für Aburteilung wenig Platz.

Im persönlichen Austausch

Obrist stellt sich unverbrüchlich auf die Seite der Kunst. Sollten die Werke jedoch seinen Ansprüchen nicht genügen, werden sie schlicht übergangen. Auch auf diese Weise der Auswahl entsteht ein Kanon und kommen vor allem Freundschaften zustande, die über Jahre und Jahrzehnte gewachsen sind und in der Regel in das Format eines aufgezeichneten Gesprächs, einer Ausstellung oder eines gemeinsamen Buches münden. Paradebeispiele sind der Maler Gerhard Richter, der «Dekonstruktivist» Gustav Metzger, der Philosoph Édouard Glissant oder die Schriftstellerin und Malerin Etel Adnan.

Die Unmittelbarkeit des persönlichen Austauschs bildet das Fundament der kuratorischen Praxis von Hans Ulrich Obrist, der seinen erfolgreichen Weg vom schweizerischen Weinfelden in die weite Welt der internationalen Kunst als eine Art Selfmademan gemacht hat.

Obrist hat sein Handwerk von der Pike auf gelernt. Bereits als Schüler hat er ein Atelier nach dem anderen besucht. Initiation in das Reich der Kunst, die für ihn «die grösste Form der Hoffnung und der Öffnung» darstellt, waren die Werke von Marc Chagall, die ihm als Kind in Form von Büchern im Haus einer Freundin seiner Eltern begegnet sind. Ein Autounfall im Alter von sechs Jahren und ein längerer Krankenhausaufenthalt haben ihm bewusst gemacht, dass der Tod nicht unbedingt auf sich warten lässt. Seitdem gilt der Ausdruck «urgent» im Sinn von «wichtig, dringend zu erledigen» als sein Lebensmotto.

Postkarten zuhauf bildeten im Kinderzimmer bald das erste eigene «Museum», und Bücher sonder Zahl formierten sich zu einer fast enzyklopädischen Handbibliothek. «Jeden Tag ein Buch kaufen» wurde bald zum Leitfaden der Selbstausbildung eines Wissenshungrigen, der weniger durch die Schule als vielmehr durch Lektüre und Atelier-, Galerie- und Museumsbesuche zur Reife gelangt ist.

Who’s who der Künstlerschaft

So wie Obrist den Beginn seiner Laufbahn beschreibt, erinnert seine Nacherzählung ein wenig an einen Schweizer Bildungsroman, zum Beispiel an den «Grünen Heinrich» von Gottfried Keller. Von dem erwähnten schweren Unfall einmal abgesehen war ihm, so möchte man fortfahren, das Glück fast immer hold.

Dank den im «Art Diary» der Zeitschrift «Flash Art» publizierten Adressen von Künstlern verabredet sich der junge Kunstenthusiast von der öffentlichen Telefonzelle aus mit Ateliers in der Schweiz, Italien und Frankreich. Gefördert durch das Künstlerduo Fischli/Weiss, begann der Siebzehnjährige die bis heute fortdauernde Ära der Atelierbesuche.

Nachtzüge brachten ihn kostengünstig von Ort zu Ort und von Gespräch zu Gespräch. Die Neugier war grenzenlos, und der Eifer des jungen Mannes, der sich zum Leidwesen der Eltern um sein Studium der Ökonomie wenig bekümmerte, beeindruckte jeweils sein Gegenüber. Die Begegnungen bildeten nach und nach ein Who’s who der Künstlerschaft, zu dem bald auch Dichter, Philosophen und Architekten hinzutreten sollten.

Die bekannten offiziellen Stationen der Karriere des Star-Kurators Hans Ulrich Obrist, der häufig neben Harald Szeemann und Kasper König, den er als einen seiner Lehrherren bezeichnet, als Dritter im Bunde genannt wird, werden chronologisch vorgestellt. Der Weg führt über Wien nach Paris ans Musée d’art moderne de la Ville de Paris und an die Seite der Kuratorin Suzanne Pagé und schliesslich nach London zur Serpentine Gallery. Rund 350 Ausstellungen hat Obrist realisiert. Die Zahl der von ihm verfassten oder herausgegebenen Bücher wurde ob ihrer schieren Grösse noch nicht ermittelt.

Hans Ulrich Obrist: Ein Leben in progress. Kampa-Verlag, Zürich 2024. 256 S., Fr. 35.–.

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