Mittwoch, Oktober 2

Der Zürcher Stadtrat räumt ein, dass die Belastungen aufgrund der langen Dauer gross war. Die Auswirkungen werden nun untersucht.

Während sich die einen drinnen auf die Schultern klopfen, beheben die anderen draussen die Schäden. Unweit des Zürcher Kongresshauses, wo die Organisatoren der Rad-Weltmeisterschaft gerade Bilanz ziehen, sind zwei Strassenarbeiter in orangen Überzügen damit beschäftigt, eine Verkehrsinsel wieder aufzubauen. Eine von vierzig, die zur Sicherheit der Rennfahrer entfernt worden waren.

Für die SVP ist dies eine Verschleuderung von Steuergeld. Einer von mehreren Gründen, weshalb sie Anfang Woche im Zürcher Kantonsrat äusserst kritisch auf den Anlass zurückblickte. Dieser habe viel zu lange gedauert, die Einschränkungen des Verkehrs seien unverhältnismässig gewesen, die Besucherzahlen enttäuschend. Und eine erhöhte Wertschöpfung habe nicht stattgefunden.

Daniel Rupf, der Gesamtprojektleiter der WM, hielt im Kongresshaus am Mittwoch dagegen. (Lesen Sie hier, was die Organisatoren über den tödlichen Unfall von Muriel Furrer sagten.) Insgesamt hätten 1,2 Millionen Zuschauer die Rennen vor Ort mitverfolgt. Eine Zahl, die die eigenen Erwartungen «bei weitem übertroffen» habe. Dabei handelt es sich laut Rupf allerdings nur um eine Schätzung, die aufgrund von Fernsehbildern an verschiedenen Schwerpunkten entlang der Strecke errechnet wurde.

Die Organisatoren rechneten damit, dass je nach Renntag 10 bis 17 Prozent der Zuschauer aus dem Ausland anreisen würden. Vor allem an den beiden Wochenenden seien tatsächlich viele gekommen, dies habe sich auf den ausgebuchten Campingplätzen gezeigt. Aber waren es wirklich Hunderttausend oder mehr?

So etwas müsste sich in den Hotels der Region bemerkbar gemacht haben. So wie bei anderen Grossanlässen, etwa dem WEF in Davos oder den Taylor-Swift-Konzerten im Juli, für die 15 000 Fans aus den USA nach Zürich reisten. Einen vergleichbaren Effekt gab es laut Michael Böhler, dem Präsident des Zürcher Hotelierverbands, diesmal nicht.

Vollständige Daten fehlen zwar noch, aber eine Umfrage des Verbands hat ergeben, dass die Hotels in der Zürcher Innenstadt während der Rad-WM gleich viele Gäste hatten wie in anderen Jahren. Besser lief es einzelnen Häusern ausserhalb der Stadt, in Dübendorf oder Uster. Ihr Vorteil: Sie verfügen über viele Parkplätze. Deshalb quartierten sich die Radsport-Teams mit ihrem ganzen Tross dort ein.

Das Organisationskomitee der WM äussert sich nicht dazu, es will die offiziellen Zahlen von Zürich Tourismus abwarten. Dessen Vorstand hat sich am Mittwoch ebenfalls getroffen und sich vor allem über das Abschlusswochenende gefreut. Genauer: Über die sorgfältig in Szene gesetzten Bilder von Zürich, die während des Höhepunkts der WM in alle Welt übertragen wurden. Davon erhofft sich die Fremdenverkehrsbranche einen Langzeit-Effekt.

Eine Interessenabwägung und die Frage: War es das wert?

Zwei Drittel des Publikumsaufmarschs konzentrierten sich auf den allerletzten Tag, das Strassenrennen der Männer. Unter der Woche kamen laut Cheforganisator Rupf weniger Zuschauer als erhofft. An jenen Tagen also, als auch die erstmals ins Programm integrierten Athletinnen und Athleten mit Behinderungen ihre Rennen fuhren. Rupf relativierte zwar mit einem Verweis auf das garstige Wetter.

Trotzdem verleiht das Zwischentief bei den Zuschauerzahlen den Kritikern auftrieb, die sagen: Das Programm war überladen und der Anlass zu lang. Die SVP, der Gewerbeverband und der fürs Sportdepartement zuständige Stadtrat Filippo Leutenegger (FDP): Sie alle sind der Ansicht, dass die WM besser angekommen wäre, wenn sie sich auf drei Tage über ein Wochenende beschränkt hätte.

Auch Stadtpräsidentin Corine Mauch (SP) räumt auf Anfrage ein, dass die Belastung gross gewesen sei. Neun Tage seien eine lange Zeit verglichen mit Grossveranstaltungen wie der Street Parade. Der Stadtrat äussert in einer Rückschau Verständnis für den Unmut, den die Verkehrseinschränkungen auslösten.

«Andererseits bin ich sehr überzeugt, dass Zürich mit der Inklusion der Para-Cycling-WM Massstäbe gesetzt hat», sagt Mauch. «Für diese Sportlerinnen und Sportler war das eine grossartige Sache, ihre Freude und die Begeisterung des Publikums haben mich sehr berührt.» Für die Organisatoren der WM war dies den Preis von tagelangen Sperrungen der Innenstadt «ganz klar» wert. Diese Athletinnen und Athleten hätten nie zuvor eine solche Kulisse erlebt, und sie hätten sie verdient.

Die Stadtpräsidentin will nicht sagen, ob sie noch einmal gleich entscheiden würde. Dazu müsse man sich Zeit lassen und erst einmal in Erfahrung bringen, welche ökonomischen, ökologischen und sozialen Auswirkungen die WM wirklich hatte. Stadt und Kanton Zürich haben eine Studie in Auftrag gegeben, die genau dies klären soll. Ergebnisse werden im nächsten Jahr erwartet.

Die Lehre für künftige Grossveranstaltungen

Dass Gewerbetreibende in den gesperrten Gebieten zum Teil litten, steht inzwischen ausser Frage. Nicolas Kern, der Präsident von Gastro Stadt Zürich, hat in seinem Restaurant Degenried 25 Prozent weniger Umsatz gemacht als üblich. Auch die Läden verzeichneten laut einer Umfrage der City-Vereinigung ein Minus von durchschnittlich 20 Prozent. Dass am Sonntag viel Volk ans Rennen strömte, half ihnen nichts.

Thomas Hess, Geschäftsleiter des kantonalen Gewerbeverbands, betrachtet es daher rückblickend als Fehler, den Rekurs gegen das Verkehrskonzept zurückgezogen und sich nicht konsequent gewehrt zu haben.

Mindestens drei betroffene Unternehmen versuchen Verpasstes offenbar nachzuholen: Sie haben Schadenersatzforderungen bei der Stadt Zürich eingereicht, wie eine Sprecherin mitteilt. Details nennt sie nicht. Ein weiteres halbes Dutzend hat dies ebenfalls geprüft, mit Unterstützung des Gewerbeverbands. Sie sehen nun aber davon ab, weil ihnen die Erfolgschancen zu gering erschienen – und das Risiko, noch mehr Geld zu verlieren, zu gross.

Die Organisatoren der WM ziehen daraus eine Lehre für solche Grossveranstaltungen: «Man muss in Zukunft mit allen relevanten Stakeholdern zusammensitzen, bevor man sich für so etwas bewirbt», sagt Daniel Rupf. «Besonders, wenn man den öffentlichen Raum so stark in Anspruch nimmt.»

Eine andere Lehre könnte sein, dass man auf den Einsatz von Steuergeld möglichst verzichtet. Doch Rupf winkt ab: Privat lasse sich so etwas nicht finanzieren, wenn man öffentlichen Raum in Anspruch nehme. Die Fussball-Europameisterschaft der Frauen, die im kommenden Jahr stattfindet, bekomme noch mehr Unterstützung als die Rad-WM.

Etwas wird bei diesem nächsten Grossanlass allerdings anders sein: Er beschränkt sich auf das Letzigrund-Stadion und die Fanmeile und wird die Innenstadt daher kaum lahmlegen. Und es wird dafür auch niemand Verkehrsinseln mit dem Presslufthammer bearbeiten.

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