Freitag, Oktober 18

Ein Gericht in Texas hat die Hinrichtung von Robert Roberson ausgesetzt. Der Autist sitzt im Todestrakt, weil er seine kleine Tochter zu Tode geschüttelt haben soll. Doch das Kind könnte an einer falsch behandelten Lungenentzündung gestorben sein.

Der Amerikaner Robert Roberson sollte bereits tot sein. Die Hinrichtung des Mannes per Giftspritze war für Donnerstagabend 18 Uhr in Huntsville, Texas, angesetzt. Doch der Oberste Gerichtshof des Gliedstaates setzte die Vollstreckung des Todesurteils in letzter Minute aus.

Roberson wird vorgeworfen, vor mehr als zwanzig Jahren seine zweijährige Tochter Nikki getötet zu haben. Am 31. Januar 2002 brachte der Vater die kleine Nikki, die nicht mehr atmete, in eine Klinik. Dort zeigten Scans subdurale Blutungen, Hirnschwellungen und Netzhautblutungen, wie sie bei einem Schütteltrauma vorkommen. Der Aussage des Vaters, dass die kranke Nikki aus dem Bett gefallen sei, glaubten sie nicht.

Damals hatten Ärzte ein Schütteltrauma als Ursache für den Tod des Mädchens diagnostiziert. 2003 verurteilte eine Jury Roberson zum Tode.

Roberson wäre der erste Mensch in den USA gewesen, der wegen des sogenannten «shaken baby syndrome» hingerichtet worden wäre. Auch deshalb zieht der Fall landesweit grosse Aufmerksamkeit auf sich.

Neue wissenschaftliche Erkenntnisse

Immer mehr Personen hegen Zweifel daran, dass Roberson sein Kind misshandelte. Seine Anwälte gingen mehrfach erfolglos in Berufung, auch lehnte der Begnadigungsausschuss von Texas ein Gesuch ab. Doch eine Gruppe von 86 texanischen Parlamentariern stellte ihm am Mittwoch eine aussergewöhnliche Vorladung aus: Der Todeskandidat soll am Montag Fragen zu seinem Fall vor dem texanischen Parlament beantworten. Der Oberste Gerichtshof begründete die Aussetzung der Hinrichtung damit, dass ein Toter nicht als Zeuge zu dieser Anhörung erscheinen könne.

Roberson beteuert seit Jahren seine Unschuld. Seine Anwälte argumentieren, dass es mittlerweile neue Erkenntnisse zum «shaken baby syndrome» gebe. Eine von den Anwälten bestellte Expertengruppe aus Ärzten und anderen Wissenschaftern ist sich einig, dass Nikki an einer falsch behandelten Lungenentzündung gestorben sein könnte. In der Woche vor Nikkis Tod hatte der Vater mehrmals mit dem Kind die Klinik aufgesucht. Die Lungenentzündung wurde mit den Medikamenten Phenergan und Kodein behandelt. Diese gelten mittlerweile als ungeeignet für die Behandlung von Kleinkindern, da sie die Atmung unterdrücken können.

Medikamente, die die Atmung aussetzen

Auch der Jurist und Bestsellerautor John Grisham setzte sich für Roberson ein. In einem Kommentar für die «Washington Post» schreibt Grisham, dass zur Zeit, als Roberson verurteilt worden sei, Hunderte von Eltern, Grosseltern oder Babysittern wegen «des Todes von Säuglingen unter Berufung auf die zweifelhafte medizinische Hypothese des Schüttelsyndroms verurteilt» worden seien. Durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse seien in den letzten Jahren mindestens 32 Eltern und andere Betreuer, die der Misshandlung verdächtigt worden seien, von dem Vorwurf entlastet worden. Denn die Wissenschaft habe gezeigt, dass die Symptome auch durch Krankheiten verursacht werden könnten.

Die Anwälte machen zudem geltend, dass die Ärzte damals zuungunsten von Roberson ausgesagt hätten. Dieser sei ihnen emotionslos und distanziert vorgekommen. Er sei nicht aufgewühlt gewesen, wie es Eltern in solch dramatischen Situationen gewöhnlich seien. Ärzte und Ermittler sahen darin ein Anzeichen von Schuld. Doch Jahre später – bereits im Todestrakt – wurde bei Roberson eine Autismus-Spektrum-Störung diagnostiziert.

Selbst der leitende Ermittler in dem Fall ist mittlerweile von Robersons Unschuld überzeugt: Brian Wharton sagte am Mittwoch bei einer Parlamentsanhörung, er schäme sich, dass er so sehr darauf konzentriert gewesen sei, einen Täter zu finden, dass er Robert nicht gesehen, dessen Stimme nicht gehört habe. «Roberson ist unschuldig.» Bei der Anhörung ging es auch um das als «Junk-Science-Erlass» bezeichnete texanische Gesetz. Es soll Angeklagten die Möglichkeit geben, ihre Verurteilung anzufechten, wenn neue wissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen, die zum Zeitpunkt ihres Prozesses nicht verfügbar waren.

Robersons Schicksal ist ungewiss

Robersons Fall lenkt den Fokus auf die Problematik, dass wegen fehlender Ressourcen der Angeklagten unschuldige Personen hingerichtet werden könnten. Laut dem Death Penalty Information Center wurden in den vergangenen fünfzig Jahren mindestens 200 ehemalige Todeskandidaten von allen Anschuldigungen freigesprochen, nachdem ihnen Zugang zu wissenschaftlichen Tests oder besseren Anwälten gewährt worden war.

Es dürften auch solche Fälle wie die von Roberson sein, die die Zustimmung zur Todesstrafe sinken lassen. Laut dem Meinungsforschungsinstitut Gallup sinkt der Anteil derjenigen, die die Todesstrafe bei Mord befürworten, seit Mitte der 1990er Jahre stetig und liegt nun bei 53 Prozent – der niedrigste Wert seit 1972.

Ob Roberson hingerichtet wird, ist offen. Ein neuer Termin könnte nach seiner Anhörung kommende Woche festgesetzt werden.

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