Samstag, September 13

In einer Netflix-Doku führt der «Two and a Half Men»-Star einen gnadenlosen Seelenstriptease auf. Doch es bleiben blinde Flecken.

Wo ein normales Leben seine üblichen Höhen und Täler durchläuft, ähnelt jenes von Charlie Sheens einem Gummiball, der mit gewaltiger Kraft durch ein Treppenhaus springt. In unberechenbaren Flugbahnen jagt er zur Decke und wieder nach unten, prallt gegen Wände, knallt auf Stufen – zerfällt dabei aber nie komplett in seine Einzelteile. Allenfalls bleiben Kratzer, der nächste Wurf kann kommen.

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Um das Jahr 2010 war Sheen der bestbezahlte Fernsehschauspieler der Welt. Fast zwei Millionen Dollar gab es für eine 21-minütige Folge von «Two and a Half Men». Die Hauptfigur der Sitcom hiess ebenfalls Charlie, ein oberflächlicher Lebemann und Womanizer. Er musste nur verdutzt gucken, zwinkern und einen ironischen Spruch über seinen unsicheren Bruder oder die neue Bettbekanntschaft reissen, um witzig zu sein. Zugegeben, die Lachkonserve half ordentlich mit.

Fünf Jahre später, da war er bei der Serie längst rausgeworfen und seine Figur beerdigt worden, gab Sheen bekannt, er sei seit einiger Zeit mit HIV infiziert. Eine Diagnose, die zu Beginn seiner Karriere Mitte der 1980er Jahre tödlich gewesen wäre. Inzwischen ist die Infektion zwar weiterhin nicht heil-, doch für jene, die es sich leisten können, immerhin behandelbar. «Die Tattoos sind viel schlimmer», sagt Sheen heute in Interviews. Locker, hinter einer Mauer aus Ironie, so wie er all seine Eskapaden mit einer Mischung aus brutaler Ehrlichkeit und zerknirschter Verschmitztheit kommentiert. Ja, fuck, war nicht so cool. Aber ein bisschen ja doch?

Er füllte allein die Klatschspalten

Am 3. September ist Sheen 60 geworden. Letzte Woche erschienen gleich zwei mediale Memorabilia: seine vor Vulgärsprache strotzende Autobiografie «The Book of Sheen». Und die zweiteilige Netflix-Dokumentation «aka Charlie Sheen», eine Beichte in profaner Umgebung. Sheen sitzt darin am Ecktisch eines typischen amerikanischen Diners, auf dem Tisch Ketchup und Senftube. Die braunen Ledersitze sehen erstaunlicherweise kaum ledriger aus als Sheens Bubengesicht. «Das Beste an einem Diner: Es gibt keine Überraschungen.»

Ob man all das, was Sheen in den letzten Jahrzehnten so veranstaltet hat, überraschend findet, hängt davon ab, wie ausführlich man sich den Promi-News in den Klatschspalten gewidmet hat. Es gab Zeiten, da konnte Sheen sie allein füllen. Mit einer unüberschaubaren Aneinanderreihung von Alkohol- und Drogeneskapaden, mit Callgirls und Prostituierten, mit Gewaltausbrüchen und bizarren Anfällen von Egomanie. Ein dreigliedriges Leben, wie Sheen in der Doku summiert: «Feiern. Feiern mit Problemen. Und dann bloss noch Probleme.»

Mit Cannabis in jungen Jahren fing alles an, dann intensivierten Kokain und Crack den Rausch. Und natürlich Alkohol, die schlimmste, weil selbstverständliche Droge. Sheen nahm alles, tagelang, völlig rücksichtslos gegenüber dem eigenen Leib und Leben – und auch gegenüber anderen. Wie im Ballermann-Hit: «Es gibt nur ein Gas – Vollgas.» Doch egal, wie hart er abstürzte, Sheen stand wieder auf. Der Jugendfreund Sean Penn, der wie andere Weggefährten ebenfalls in der Doku spricht, spekuliert über eine biologische Anomalie, Sheen hätte längst tot sein müssen.

Bei seinem ersten Mal Crack gab es einen Blow-Job dazu. «Wie kann ich das mit – ähm – ein bisschen Stil erzählen?» – «Der Zug ist längst abgefahren!», ruft Regisseur Andrew Renzi aus dem Hintergrund. Seine Anekdoten feuert Sheen ab wie ein Teenager, dem völlig egal ist, dass gerade das letzte Stück Selbstachtung den Bach hinunter rauscht. Wie er dank Promi-Bonus im Pilotensitz eines Verkehrsflugzeugs sitzen und dieses kurz steuern durfte – ohne Wissen der Passagiere und sternhagelvoll, versteht sich. Wie er 18 Stunden lang Nasenbluten von einem Kokain-Marathon hatte und sich einen Eiswürfel in den Hintern schieben musste, um vor Erschöpfung nicht einzuschlafen.

Wie der Mahlstrom zog Sheen Menschen aus seiner Umgebung hinunter und hinein in den Exzess. Sein Dealer Marco erzählt in der Doku, wie er just aus dem Knast entlassen wurde und der Kriminalität abgeschworen hatte, als Charlie Sheen um die Ecke bog. Natürlich intervenierten anfangs Familie und Freunde, einmal wurde sogar Clint Eastwood per Telefon zugeschaltet: «Junge, du musst dein Leben wieder in den Griff bekommen.»

Doch sein Leben blieb ein wüster, unverwüstlicher Gummiball. Bei seiner dritten und letzten Hochzeit (mit der Schauspielerin Brooke Mueller) gab ihm der Vater nur resigniert mit: «Ich hoffe, ihr wisst, was ihr da tut.» Und in einer alten Aufnahme sehen wir Donald Trump, der den Brauteltern davon abrät, ihre Tochter diesen Verrückten heiraten zu lassen.

Mit George Clooney am Lagerfeuer

Vielleicht wird man so exzessiv, wenn man bei der Geburt fast gestorben ist, weil sich die Nabelschnur um den Hals wickelte. Der Doktor rettete dem dritten von vier Geschwistern, dem Säugling Carlos Irwin Estévez, 1965 in einem New Yorker Krankenhaus das Leben. Zum Dank wurde er in dessen mittlerem Namen verewigt. Der Pfad zum Schauspiel war wegen des Vaters Martin Sheen, der die Kinder zum Dreh von «Apocalypse Now» auf die Philippinen mitnahm, früh ausgelegt. Und durch die Rivalität mit dem Bruder Emilio Estevez, der seinen hispanischen Geburtsnamen im Gegensatz zu den beiden anderen behielt.

Der Anfang in Hollywood war Sheen dennoch nicht in die Wiege gelegt; in einer Teenager-Rolle in «Grizzly 2» sitzt er 1983 an der Seite von George Clooney und Laura Dern ums Lagerfeuer, ehe der Bär kommt. Doch der Trash-Film erschien nach massiven Produktionsproblemen erst 2020. Für seine sechs Minuten verzichtete Sheen auf die Hauptrolle in «Karate Kid», die Ralph Macchio in den Olymp hob. Drei Jahre später reichten Sheen nur wenige Worte in «Ferris Bueller’s Day Off», um seine erste ikonische Szene zu erhalten. Dann folgte Kinogeschichte mit dem Vietnamkriegsfilm «Platoon» und «Wall Street», beide von Oliver Stone.

Seine unter Millennials wohl populärste Rolle in «Two and a Half Men» war nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass Sheen zwischen all den Abstürzen eine regelmässige Beschäftigung brauchte. Im Comedy-Fach hatte er sich zuvor bereits mit der grandiosen Parodie «Hot Shots» (1991) und der heute ziemlich in Vergessenheit geratenen Serie «Spin City» etabliert; für Letztere erhielt er 2002 den Golden Globe, den einzigen ernsthaften Preis seiner Karriere. Was womöglich auch damit zu tun hat, dass Charlie Sheen stets genau eine Rolle perfekt verkörpert: Charlie Sheen.

Viele faszinierte weniger seine Karriere als Charakterdarsteller oder Clown, sondern mehr die Tatsache, dass er sämtliche Regeln brach, an die man sich doch anstandshalber zu halten hatte. Sheen war ein machohafter Megalomane, ein Produkt der hedonistischen Brat Packs der 1980er Jahre, der verdammt noch mal tun sollte, worauf er Bock hatte. Doch selbst für ein krawalltolerantes Publikum waren Sheens erratische Eskapaden zu krass: Auf seiner «Torpedoes of Truth»-Bühnentour, die Sheen 2011 nach seinem Rauswurf bei «Two and a Half Men» als Provokation startete, wurde er, lallend und kettenrauchend, ausgebuht.

Hat er absichtlich auf seine Frau geschossen?

Vor allem die gewalttätigen Vorfälle mit Frauen lässt die Doku leider im Nebel der Erinnerung verblassen. Hat Sheen absichtlich auf Kelly Preston geschossen, oder war es ein Unfall? Im Fall einer Messerattacke auf Brook Mueller war diese selbst so dicht, dass sie nicht mehr weiss, was passiert ist. Nichts bleibt an Sheen haften; wohl auch deshalb, weil seine Umgebung oft in ähnlich umnachteten Zuständen wie er selbst war.

Die heftigsten Vorwürfe bestreitet Sheen vehement: dass er Partnerinnen seine Krankheit verschwiegen und dass er Corey Haim vergewaltigt habe. Das letzte Bekenntnis am Ende: Sheen hatte Sex mit Männern. Für manche Amerikaner mag das die schlimmere Enthüllung sein als eine Crack-Pfeife.

Heute ist Sheen nach eigenen Angaben seit sieben Jahren nüchtern, gibt sich geläutert. Und Hollywood liebt gefallene Stars, die sich wieder gen Himmel aufrappeln. Die Ex-Frau Denise Richards, die in der Doku permanent weint, wenn sie nur an die Ehe zurückdenkt, sagt, dass sie Sheen ja immer noch irgendwie liebe. Und auch die lange vernachlässigten Kinder freuen sich über den neuen Papa. «Aka Charlie Sheen» soll laut seinem Protagonisten auch ein Liebesbrief an den Vater und den Bruder Emilio Estevez sein. Beide verweigerten die Mitarbeit an der Doku.

«Aka Charlie Sheen»: 2 Teile à 90 Minuten auf Netflix.

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