Freitag, September 27

Grausam, unrentabel, verpönt: Walfang ist ein Relikt aus einer anderen Zeit. In Island ist er immer noch erlaubt. Wieso eigentlich?

Es ist Juni 2024, Beginn der Tourismussaison in Island. Im Hafen von Reykjavik fahren im Stundentakt Schiffe ein und aus. Sie steuern in die Bucht von Faxafloi, den Lebensraum für Buckel- und Zwergwale. An Bord: Hunderte Reisende, die ungeduldig darauf warten, einen Blick auf eine Schwanzflosse zu erhaschen. Islands Wale sind eine Touristenattraktion.

Aber auch Beute. Nur dreissig Kilometer von den Touristen entfernt warten die Jäger in Hvalfjördur auf die Jagdlizenz. Im Juni beginnt auch die Walfangsaison – zumindest theoretisch. Der Firma Hvalur hf., dem einzigen Unternehmen in Island, das noch Walfang betreibt, fehlt jedoch die Erlaubnis für die Jagd. Sie wird erst Tage später eintreffen. Dann, wenn es eigentlich bereits zu spät ist.

Jedes Jahr um dieselbe Zeit wird auf der Insel im Nordatlantik ein alter Streit neu aufgerollt. Im Zentrum steht die Frage, ob es noch vertretbar ist, Wale zu töten. Auf der einen Seite stehen Menschen, die so denken wie der Geschäftsmann Gunnar Bergmann Jonsson. Für ihn sind Wale nichts anderes als grosse Fische, die man fängt, verkauft und in dünnen Scheiben auf den Grill legt. Zu den anderen gehören all jene, die mit einem Wal eher den Spielfilm «Free Willy» als ein Steak assoziieren.

Neben Norwegen und Japan ist Island das einzige Land weltweit, das noch kommerziellen Walfang betreibt. International wird es heftig dafür kritisiert. Doch auch im Land selbst wächst der Widerstand. Vor einem Jahr wollte die Regierung den Walfang verbieten. Sie ist gescheitert. Rentabel ist das Geschäft längst nicht mehr, trotzdem setzt sich eine mächtige Lobby für die Walfänger ein.

Die Geschichte des Walfangs in Island ist eine Geschichte über Macht, Profitgier und ein Inselvolk, das nach eigenen Regeln lebt.

Der Trick

Das war offensichtlich die falsche Frage. Gunnar Bergmann Jonsson lehnt sich in seinem Stuhl zurück, sein Blick wirkt stechend. Dann holt er aus: «Nein, ich habe es nie bereut, Wale zu töten. Waljagd ist nichts anderes als jede andere Fischerei. Oder das Schlachten von Hühnern. Wir produzieren hier Essen für die Welt. Es gibt arme Länder, in denen Menschen nicht genügend zu essen haben. Es ist dumm, nicht alle Ressourcen zu nutzen, die uns zur Verfügung stehen, um zu helfen.»

Jonsson hat fünfzehn Jahre lang Wale gejagt. Oder wenn man es genau nimmt: Er liess sie jagen. Wäre es nach ihm gegangen, würde er es heute noch tun. Doch das Schicksal wollte es anders: In den frühen Morgenstunden des 31. Juli 2019 brannte im Hafen von Hafnarfjördur eine Industriehalle bis auf die Grundmauern nieder. Das Gebäude gehörte der Firma IP-Utgerd, einem Unternehmen, das auf die Jagd von Zwergwalen spezialisiert war. Besitzer der Firma: Gunnar Bergmann Jonsson.

Für Jonssons Karriere als Waljäger war es das Ende, für die Walschützer ein Etappensieg. Als Jonsson ankündigte, nie mehr Wale zu jagen, vermarkteten die Aktivisten seinen Meinungsumschwung als Erfolg ihrer Kampagnen. Jonsson – eines der prominentesten Gesichter der umstrittenen Branche – wurde über Nacht zum Gesicht der angeblich Geläuterten.

Jetzt sitzt Jonsson in einem gesichtslosen Bürogebäude in einem Aussenquartier von Reykjavik. Statt Walfleisch verkauft er heute Immobilien. Wie ein Geläuterter klingt er nicht gerade: «Der Walfang fehlt mir. Die Jäger werden alt, das Wissen geht verloren – es wird schwierig sein, irgendwann wieder von Grund auf neu anzufangen.»

In den isländischen Gewässern wurden seit dem 16. Jahrhundert Wale gejagt. Zunächst von Basken und Niederländern, später von Norwegern und Amerikanern. Den Isländerinnen und Isländern selbst fehlten lange sowohl das Geld als auch das Wissen für die Jagd. Dies änderte sich erst im 20. Jahrhundert. Die Internationale Walfangkommission setzte der Jagd mit einem weltweiten Moratorium jedoch 1989 ein Ende. Zumindest glaubte sie das.

Unter dem Deckmantel der Wissenschaft beschloss Islands Regierung 2003, das Verbot zu umgehen. Im Ausland war der Aufschrei riesig. Diplomaten aus 25 Ländern forderten die isländische Regierung dazu auf, das Moratorium einzuhalten – vergeblich. Man wolle die Ernährungsgewohnheiten der Wale untersuchen und dazu müsse man nun mal ihre Bäuche aufschneiden, hiess es.

Der wissenschaftliche Zweck hinderte die Walfänger nicht daran, das Fleisch kommerziell zu verwerten. Im Sommer 2004 studierte der 24-jährige Gunnar Bergmann Jonsson Wirtschaftsrecht an der Universität von Reykjavik und suchte nach einem Nebenjob. Er wurde bei einem Walfänger fündig. 25 Zwergwale wurden in jenem Jahr erlegt. Für ihren Verkauf war Jonsson zuständig.

2006, bevor die Studie abgeschlossen war, begann Island wieder mit kommerziellem Walfang. Diesmal argumentierte das Ministerium damit, dass der Fischbestand im Nordatlantik durch die Wale gefährdet sei. Die Ergebnisse des eigenen Forschungsprogramms hat es nicht abgewartet. Der zuständige Fischereiminister war Mitglied der Unabhängigkeitspartei. Die Partei wird in der Walfangdebatte in den kommenden Jahren noch mehrmals eine entscheidende Rolle einnehmen. Es ist die gleiche Partei, für die Gunnar Bergmann Jonssons Vater politisiert.

Jonsson übernahm 2009 die Firma, bei der er einst als Aushilfe angefangen hatte – just zu dem Zeitpunkt, als die Fangquote für Zwergwale von der Regierung von 40 auf 100 erhöht wurde. Das Fleisch verteilte er nicht an Hungernde, er verkaufte es an isländische Supermärkte und Restaurants. Jonsson sagt: «Wir haben einen ganz neuen Markt geschaffen.» Doch der Aufschwung hielt nicht lange.

Der Profit

Als der Vulkan Eyjafjallajökull im April 2010 ausbrach, den Flugverkehr in Europa lahmlegte und Island in die internationalen Schlagzeilen brachte, wollten Touristen aus aller Welt Lavafelder und heisse Quellen sehen – und Wale, bevorzugt lebendig. Walbeobachtung wurde zu einer der beliebtesten Aktivitäten in Island. Auch Jonsson wollte davon profitieren und Feriengäste auf dem Fangschiff mitnehmen. Die Idee war zum Scheitern verurteilt. Heute sagt er: «Bei diesen Touren sieht man doch höchstens eine Schwanzflosse. Die Grösse des Tieres wird erst sichtbar, wenn er am Ufer liegt und in Stücke geschnitten wird.»

Genau das sieht die Tourismusbranche als Gefahr für das Ansehen von Island. Sie verbündet sich mit Tierschützern, die die Aufmerksamkeit für neue Anti-Walfang-Kampagnen nutzen. «Meet us, don’t eat us», lautet einer der Slogans, die bis heute an vielen Restauranttüren in Reykjavik hängen. Die Gegner beschuldigen die Waljäger der Verbreitung von Falschinformationen – und umgekehrt. Eine der strittigsten Fragen: Wer konsumiert überhaupt das Fleisch der erlegten Tiere?

Fakt ist, dass der Grossteil der isländischen Ausbeute nach Japan exportiert wird. Befragungen von verschiedenen Tierschutzorganisationen kommen zu dem Schluss, dass nur zwei oder drei Prozent der Isländerinnen und Isländer regelmässig Walfleisch essen. Ob das stimmt, lässt sich nicht überprüfen. Jonsson jedenfalls hält die Zahl für eine Lüge. Er sagt: «Wir haben immer jedes einzelne Kilo verkauft. Es gab sogar Jahre, in denen wir Walfleisch aus Norwegen importieren mussten – so gross war die Nachfrage.»

Was Jonsson über all die Jahre antrieb, war ein klares Ziel: «Wir wollten den Preis möglichst in die Höhe treiben.» Er zückt eines seiner zwei Smartphones und rechnet vor: «Wir könnten pro Jahr locker 50 Tiere verkaufen. Wenn ein Zwergwal eine Tonne wiegt, wären das 200 000 Portionen à 250 Gramm. 200 000 Portionen rotes Fleisch. Für ein Kilo könnte man 3000 Kronen verlangen.» Das macht 150 Millionen isländische Kronen, 1 Million Franken.

Wirklich rentabel war das Geschäft nicht. Jonsson musste 2012 und 2014 Konkurs anmelden, ehe er sein letztes Unternehmen durch den Brand verlor. Ähnlich erging es auch den anderen Walfängern.

Jonsson sieht den Grund für die finanziellen Probleme in den unsicheren Rahmenbedingungen. Immer grössere Küstenabschnitte seien für die Jagd gesperrt, Lizenzen erst im letzten Moment ausgestellt worden. «Die Regierung stand nie wirklich hinter uns», sagt er. Doch das stimmt nur zum Teil. In der Regierung sitzt auch ein mächtiger Verbündeter.

Kein Ende

Der Walfang trägt ein Prozent zu den Exporterträgen aus der gesamten Fischerei bei. Wirtschaftlich mag die Branche unbedeutend sein, doch politisch hat das Thema Gewicht. Die Bevölkerung ist gespalten: Laut einer im Juni 2023 durchgeführten Befragung sind 51 Prozent der Isländerinnen und Isländer gegen den Walfang. Er ist zu einer Kontroverse geworden, an der die Regierung beinahe zerbrochen wäre.

Im Februar 2022 kündigte die rot-grüne Fischereiministerin Svandis Svavarsdottir an, die bis 2023 geltenden Fangquoten nicht zu verlängern. Im letzten Sommer stoppte sie die Jagd für mehrere Wochen. Ihre Begründung: Die Tiere sterben oft einen langsamen und qualvollen Tod – einen zu langsamen, findet auch das isländische Veterinäramt. Doch die wissenschaftlichen Argumente zählten wenig.

Am 1. September 2023 liefen die Walfänger wieder aus. Gegen Svavarsdottir wurde ein Misstrauensvotum gestellt. Und die Kritik kam nicht nur aus der Opposition.

Eine der lautesten Stimmen, die Svavardottirs Rücktritt gefordert haben, gehört Jon Gunnarsson, dem Vater des Waljägers Gunnar Bergmann Jonsson. Gunnarsson amtete bis Juni 2023 als Justizminister, war also Teil derselben Regierung wie Svavarsdottir. Die Unabhängigkeitspartei – der Koalitionspartner der Rot-Grünen – gehört zu den mächtigsten Fürsprechern des Walfangs. Und einer, der laut verschiedenen isländischen Medien viel Einfluss in dieser Partei hat, ist der letzte verbleibende Walfänger von Island: Kristjan Loftsson, einer der reichsten Männer Islands.

Weil Svavarsdottir an Krebs erkrankte, wurde die Abstimmung über die Vertrauensfrage fallengelassen. Als sie nach ihrer Krankschreibung im Frühling 2024 ins Amt zurückkehrte, wechselte sie ins Infrastrukturdepartement. Nur so habe die Koalition gerettet werden können, schrieben damals die isländischen Medien.

Am 11. Juni dieses Jahres hat Svavarsdottirs Nachfolgerin und Parteikollegin Bjarkey Olsen Gunnarsdottir Kristjan Loftsson die Jagdlizenz für 128 Finnwale erteilt. Seine Schiffe bleiben in diesem Sommer trotzdem im Hafen. Weil die Lizenz erst nach Beginn der Jagdsaison eintraf, fehlte Hvalur hf. die Zeit für die nötigen Vorbereitungen. Loftsson hat bereits angekündigt, den Staat auf Entschädigungen für die Saison 2023 zu verklagen. Ans Aufhören denkt der 81-Jährige nicht.

Gunnar Bergmann Jonsson hat sich mit seiner neuen Arbeit als Immobilienmakler abgefunden. Er hat nicht vor, jemals wieder Wale zu fangen. Trotzdem hofft er, dass die Branche eine Zukunft hat – nachhaltig, versteht sich. «Wir wollen Wale töten – aber nicht den letzten Wal.»

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