Die Schweiz trifft am Samstag im EM-Viertelfinal auf England. Hakan Yakin erklärt, warum die Kritik am Nationaltrainer im vergangenen Herbst ungerecht gewesen sei. Er verrät, weshalb sein Bruder Murat so cool ist – und wann er doch einmal emotional wird.

Hakan Yakin, Sie arbeiteten im Winter nur knapp vier Monate als Trainer bei Istanbulspor. Was ist schiefgelaufen?

Mir hat es in der Türkei sehr gefallen, es war eine interessante Erfahrung. Ich habe festgestellt, dass ich in einer höchsten Liga arbeiten kann. Leider waren die Umstände im Klub schwierig, der Präsident hatte Ideen, die ich nicht teilen konnte, also habe ich den Klub wieder verlassen.

Den Trainer Hakan Yakin wird es aber weiterhin geben?

Klar. Ich habe im FC Schaffhausen und in Istanbul viel gelernt und kann mir auch vorstellen, wieder im Ausland tätig zu sein. Ich verfolge den Fussball und aktuell die EM intensiv.

Sind Sie überrascht, wie stark die Schweiz an der EM auftritt?

Nein. Ich habe immer gesagt, dass die Nationalmannschaft viel Qualität hat. Die Schweiz hat 2023 jedes Länderspiel ausser jenes in Rumänien dominiert. Es war sehr schade, wie schlecht die Nationalmannschaft und ihr Trainer in verschiedenen Medien dargestellt wurden. Da fehlte teilweise der Respekt.

Was hat Sie besonders gestört?

Mir hat es weh getan, zu lesen, was alles über meinen Bruder geschrieben worden ist. Man hat nicht mehr an Murat Yakin geglaubt. Gewisse Journalisten sollten sich hinterfragen, aber ich denke, diese Leute merken jetzt an der EM auch, was für einen Unsinn sie geschrieben haben. Murat ist sehr ruhig, sehr cool, das bewundere ich. Er zeigt seine Genugtuung nicht, das ist stark. Ich wäre anders, ich wäre viel emotionaler. Es war schon hart, was Murat alles lesen, hören und einstecken musste.

Ein Rücktritt war nie ein Thema?

Niemals. Wir Yakins geben doch nicht auf. Das ist nicht unsere Mentalität, so sind wir von unserer Mutter nicht erzogen worden. Wir verzeihen, aber wir vergessen nicht.

Was haben diese Kritiken mit Ihrem Bruder gemacht?

Der letzte Herbst mit dem Tod unserer Mutter war sehr schwierig für uns. Dazu gab es viel Unruhe um Murat als Nationaltrainer. Es gab Zeitungen, die ihn hart attackierten, keine Zukunft des Nationalteams mehr mit ihm sahen, schon über mögliche Nachfolger schrieben und Namen präsentierten. Das war respektlos. Murat hat aber schon als Kind gelernt, Verantwortung zu übernehmen, unter anderem für mich. Das hat ihn geprägt. So schnell kann ihn nichts aus der Balance werfen.

Sie und Ihr Bruder stehen seit Jahrzehnten im Fokus. Kritik wird Sie kaum überraschen.

Zu uns haben fast alle eine Meinung. Man hat uns gern oder man mag uns nicht. Dazwischen gibt es nichts. Es geht um die Art und Weise der Kritik. Selbst unsere türkische Herkunft ist bei einigen Menschen immer noch ein Thema, obwohl die Schweiz sehr multikulturell ist. Zum Glück sorgt das Nationalteam jetzt mit vielen Trainern und Spielern mit Migrationshintergrund für positive Schlagzeilen.

Waren Sie erstaunt, dass Murat Yakin Ende 2023 Nationaltrainer bleiben durfte? Sein Vorgesetzter Pierluigi Tami, der Direktor der Nationalmannschaft, stützte ihn nicht.

Murat hatte auch Unterstützung im Verband, und diese war wesentlich. Noch einmal: Die Schweiz war letztes Jahr in den meisten Begegnungen klar überlegen, sie hat die EM erreicht, das war das Ziel. Für mich ist es keine Überraschung, dass Murat und das Team dann an der Endrunde bereit waren, als es zählte.

So klar schien das vor einem halben Jahr nicht zu sein.

In einer Qualifikation geht es einzig darum, durchzukommen. Die Fussballer stecken mitten in einer strengen Saison und haben wichtige Spiele mit ihren Vereinen. Jetzt an der EM liegt ihr Fokus auf dem Nationalteam.

Murat Yakin wirkt 2024 deutlich frischer und wieder lockerer als im vergangenen Jahr. Teilen Sie diese Einschätzung?

Murat ist wie immer. Gelassen und ruhig, manchmal ein wenig zickig. Im Ernst: Es gibt keine Veränderung. Er hat die EM-Qualifikation reflektiert, die richtigen Schlüsse daraus gezogen, viele Gespräche mit den Spielern geführt. Und vor allem interessiert es ihn nicht, was geschrieben wird. Er kann es sowieso nie allen recht machen. Ich wusste genau: An der EM wird Murat in Topform sein. Er ist dann am besten, wenn es am wichtigsten ist.

Die Beziehung von Murat Yakin zum Captain Granit Xhaka gab auch im letzten Herbst viel zu reden. Ihr Verhältnis wirkt 2024 viel harmonischer. Dauerte es so lange, bis sich die beiden fanden, weil sie ähnliche Leadertypen sind?

Murat, Granit, Murat, Granit: Es wird zu viel darüber diskutiert. Natürlich ist Granit Xhaka der beste und wichtigste Spieler im Nationalteam. Aber Fussball ist ein Mannschaftssport. Die Medien haben diesen angeblichen Konflikt viel zu hoch gehängt. Die beiden haben in den letzten Monaten viele gute Gespräche geführt, sie sind ehrgeizig und verfolgen hohe Ziele. Im Übrigen sind sie unterschiedliche Typen. Granit ist eher wie ich, er spricht in der Hektik rund um ein Spiel auch mal Dinge sehr direkt an. Murat ist zurückhaltender.

Bis jetzt ist es an der EM erstaunlich ruhig geblieben um Xherdan Shaqiri, der mit Ausnahme seines Tores gegen Schottland noch überhaupt keine Rolle spielte. Wie beurteilen Sie diese Situation?

Ich war am Ende meiner Karriere im Nationalteam, als ich schon in Katar spielte, auch nicht mehr erste Wahl. Der Nationaltrainer Ottmar Hitzfeld erklärte mir meine Situation ganz genau. Auch Xherdan muss seine neue Rolle akzeptieren. Fussballer sind nicht dumm. Alle im Nationalteam sehen, dass die Entscheidungen von Murat funktionieren. Und Xherdan ist ein Ausnahmekönner, er hat gegen Schottland ein tolles Tor erzielt, als er spielen durfte. Murat entscheidet nie nach Namen. Nicht einmal, wenn es um seinen Bruder geht. Das musste ich beim FC Luzern erleben, als ich sein Spieler war.

Es gibt das Bild von Murat als Zocker. Können Sie damit etwas anfangen?

Nur wenn es darum geht, dass ein Zocker auch einmal unerwartete Dinge tut und mutig ist. Murat weiss immer genau, warum er welche Entscheidungen trifft. Es sieht so aus, als ob er aus dem Bauch heraus entscheidet, aber das wirkt nur so. Ich habe noch nie einen Menschen kennengelernt, der den Fussball so gut lesen kann wie er. Wenn man Murat machen lässt, kommt es gut. Er weiss, wie sein Team spielen und sich taktisch verhalten muss. Das hat man ja an dieser EM gesehen, als er für jede Begegnung andere Aufstellungen und Spieler wählte. Er ist überzeugt von sich.

Ist nicht jeder Trainer von sich überzeugt?

Viele Trainer lassen sich beeinflussen oder treffen politische Entscheidungen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Kwadwo Duah hat im ersten EM-Spiel gegen Ungarn überraschend von Anfang an gespielt, weil er für dieses Spiel die passende Lösung im Sturm war. Murat wäre sehr hart kritisiert worden, wenn das schiefgegangen wäre. Duah hat ein Tor erzielt, und die meisten Trainer hätten ihn danach auch gegen Schottland wieder gebracht. Murat nicht. Er beurteilt für jede Begegnung neu, welche Spieler am besten passen.

Welche personelle oder taktische Entscheidung von Murat Yakin hat Sie an der EM bisher am meisten überrascht?

Keine. Ich wusste ja, was er plant. Michel Aebischer links im Mittelfeld war eine spannende Wahl. Er ist ein intelligenter, ballsicherer Fussballer mit Qualitäten, die jeder Trainer schätzt. Aber er spielt seit Jahren im zentralen Mittelfeld. Murat hat eine Lösung gefunden, wie er Michel Aebischer ins Team integrieren und sogar noch den Gegner verwirren kann. Wenn er von den Spielern, die auf den Aussenpositionen infrage kommen, nicht restlos überzeugt ist, nimmt er sie nicht an die EM mit.

Was für eine Aufstellung erwarten Sie im Viertelfinal gegen England?

Es könnte sein, dass Silvan Widmer nach seiner Sperre rechts wieder spielt, weil er defensiv solid ist. Die Engländer haben auf den Flügeln herausragende Spieler wie Phil Foden und Bukayo Saka. Es wird aber vor allem wichtig sein, dass die Schweizer wieder ihrem Spiel und ihren Stärken vertrauen und den Matchplan gut umsetzen. Italien war sehr schlecht, und doch war es beeindruckend, wie dominant und selbstbewusst das Schweizer Nationalteam aufgetreten ist.

Stimmt der Eindruck, dass Murat Yakin davon profitiert, mit Giorgio Contini seit ein paar Monaten einen Assistenten seines Vertrauens zu haben?

Als Murat im Nationalteam als Coach anfing, konnte er keine Forderungen bezüglich Staff machen. Jetzt ist es auf jeden Fall ideal, dass er Leute um sich hat, die er kennt. Giorgio ist ein sehr erfahrener Trainer, er ist kommunikativ stark, spricht mehrere Sprachen. Er war früher Stürmer, ergänzt Murat in vielen Bereichen bestens. Es war für ihn bestimmt auch kein einfacher Entscheid: Er war jahrelang Cheftrainer, im Nationalteam arbeitet er jetzt als Assistent.

Der Vertrag von Murat Yakin endet nach der Europameisterschaft. Es gibt Gerüchte über lukrative Offerten aus Saudiarabien, womöglich werden europäische Topklubs einen so erfolgreichen EM-Trainer verpflichten wollen. Was würden Sie Ihrem Bruder raten?

Er wird diese Entscheidung in Ruhe treffen. Es war klug von ihm, an die EM zu gehen und die Zukunft offenzulassen. Jetzt hat er verschiedene Optionen, auch wenn er die Aufgabe als Nationaltrainer sehr gerne ausübt. Ich kann nur für mich sprechen: Ich weiss nicht, ob ich an Murats Stelle im Herbst beim ersten Rückschlag sofort erneut im Gegenwind stehen möchte, wenn die Kritiker wiederkommen. Manchmal ist es schlau, auf dem Höhepunkt zu gehen. Aber das ist meine Meinung. Wie gesagt: Ich bin emotionaler als er.

Die Begeisterung um Ihren Bruder ist fast unheimlich. Offenbar wird er auf Social Media sogar als Sexsymbol gefeiert. Können Sie das nachvollziehen?

Überhaupt nicht, er ist ja nicht einmal der hübscheste in der Familie. Was ich weiss: Murat hat auf einmal viele neue Freunde. Er verhält sich aber ganz normal, alles andere würde auch nicht zu ihm passen. Wobei: Es gab einen Moment an dieser EM, in dem ich ihn ein bisschen emotionaler erlebte als sonst.

Wann war das?

Nach dem Spiel gegen Italien auf dem Feld. Sein Schlag gegen den Torpfosten war vielleicht auch ein befreiender Schlag nach all der Kritik und dem extremen Druck in den vergangenen Monaten. Und ich sah sein Gesicht, da war schon sehr viel Erleichterung zu sehen.

Wird die Schweiz nun sogar Europameister?

Warum nicht? Aber das wäre ein verwegener Tipp. Ich sage: Deutschland. Mir gefällt die Art, wie das Team Fussball spielt. Grundsätzlich fällt mir auf, dass der Spielfluss an der EM schlechter ist als an früheren Turnieren. Die meisten Mannschaften spielen vorsichtig und verteidigen stark. Mir gefällt diese Entwicklung nicht. Mit Luka Modric hat sich der vielleicht letzte echte Zehner des Weltfussballs von einer Endrunde verabschiedet. Das ist traurig. Ich denke offensiv, auch als Trainer. Deshalb fände ich es schön, wenn sich eine spielstarke Mannschaft wie Deutschland, Spanien oder die Schweiz durchsetzt. Und ich habe Freude am Erfolg der Türkei.

Ihr Sohn Diego ist bei den GC-Junioren ein talentierter Offensivspieler. Er soll schon von Kroatien, der Heimat seiner Mutter, und der Türkei umworben worden sein. Wird es in ein paar Jahren wieder einen Profifussballer Yakin geben?

Diego ist erst 14. Er darf in Ruhe an seiner Entwicklung arbeiten. Er kann besser werden als ich, wenn er härter an seinen Defiziten arbeitet, als ich es tat.

Hakan Yakin: früher Spielmacher, heute Coach

fcr. · Hakan Yakin war einer der besten Schweizer Fussballer der Geschichte. Der 47-Jährige absolvierte 87 Länderspiele (20 Tore) und war in seinen Klubs stets Spielmacher. In der Schweiz spielte er unter anderem für den FC Basel, GC, YB und den FC Luzern, im Ausland für den VfB Stuttgart, Galatasaray Istanbul sowie in Katar. Er steht seinem zweieinhalb Jahre älteren Bruder Murat Yakin sehr nahe – und arbeitet ebenfalls als Trainer. Zuletzt war Hakan Yakin bis Mitte Januar in der Türkei bei Istanbulspor tätig.

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