Sonntag, September 8

Die Bauern und Bäuerinnen sind aufgebracht. In immer mehr Ländern Europas fahren sie mit ihren gigantischen Traktoren in die Zentren der Städte, blockieren den Verkehr und bespritzen Regierungsgebäude mit Gülle. In der Schweiz haben sie bislang Ortsnamensschilder auf den Kopf gestellt und sich zu Mahnwachen auf Autobahnüberführungen versammelt. Vielleicht kommt noch mehr.

Worum geht es? Zunächst um das liebe Geld. Die Landwirte kämpfen gegen erhöhte Steuern und gestrichene Subventionen, aber auch gegen Freihandelsabkommen und Bürokratie. Die ungelenk formulierten Botschaften auf den Protestplakaten verweisen auf einen weiteren Grund des Aufruhrs: Die Bauern fühlen sich unwohl in ihrer Haut. Fast niemand versteht mehr, was sie, die stetig schrumpfende Minderheit, eigentlich tut. Dabei sind die Landwirte unentbehrlich: Um die Menschen zu ernähren, machen sie sich noch immer die Hände mit Erde und Exkrementen schmutzig. Trotz ihren ferngesteuerten Maschinen arbeiten sie mit Pflanzen und Tieren, sie reproduzieren Leben.

Nur werden die Landwirte vermehrt fremdbestimmt. Die grossen Detailhändler und Agrokonzerne diktieren ihnen die Geschäftsbedingungen. Die Industrialisierung hat sie in ein Korsett gezwängt, das eigentlich nicht zu ihrem Arbeitsrhythmus passt, der sich dem Rhythmus der Jahreszeiten angleichen müsste. Letztlich kämpfen die Landwirte um ihre schwindende Autonomie.

Überfall auf die Kartause Ittingen

Für ihre Selbstbestimmung stiegen die Bauern und Bäuerinnen schon im Mittelalter auf die Barrikaden, aber zu Fuss. Damals bildeten sie noch die grosse Mehrheit der Bevölkerung. Auf dem Ross sassen die Ritter. Gegen sie, gegen Kirchenfürsten und Feudalherren setzte die Landbevölkerung sich zur Wehr. Ihren grössten Aufstand wagte sie im Deutschen Bauernkrieg. 1524, vor fünfhundert Jahren, zogen in Deutschland, Österreich und der Schweiz Bauernhaufen, denen sich Bürger anschlossen, gegen die Fürsten zu Feld. Am Ende wurden sie regelrecht abgeschlachtet. Insgesamt verloren etwa 75 000 Menschen ihr Leben.

Am Anfang des Bauernkriegs stehen auch Finanzfragen. Die Bauern leiden unter den hohen Abgaben, die sie den adligen Herren leisten müssen. Diese lassen sich von ihren Untertanen durchfüttern. Auf ihren Schlössern und Klöstern sitzend, behaupten sie, dass sie für das Landvolk beten und es im Kriegsfall beschützen würden. Weder bestellen sie Felder, noch melken sie Kühe, noch schlagen sie Brennholz. Ihr liebstes Hobby ist die Jagd.

Im Sommer 1524 überfallen Zürcher und Thurgauer Bauern die Kartause Ittingen und plündern die Vorratskeller. Weitere Klöster und Burgen werden gestürmt. Im März 1525 kommen im oberschwäbischen Memmingen etwa fünfzig Bauern und Anhänger der Reformation zusammen, um ein Manifest zu verabschieden: die «Zwölf Artikel». Der Text wird in nur zwei Monaten in einer Auflage von 25 000 Stück verbreitet, das Interesse an der Botschaft ist riesig. Jetzt haben die Landleute eine Ideologie in Händen, die über die reine Ökonomie hinausgeht, sie besitzen Begriffe, mit denen sie artikulieren können, was ihnen widerfährt und was sie wollen: Freiheit für den «gemeinen Mann» nach Gottes Wille, den «gemeinen Nutzen» statt Abgaben für den Adel.

Die Bauern vergleichen sich mit den versklavten Israeliten in Ägypten. Sie verlangen von den Herren, die Steuern zu reduzieren und auf die Gemeinde umzuverteilen. Sie wollen ihre Pfarrer selber wählen. Die Leibeigenschaft soll abgeschafft werden. Die Gesellschaft sei nach dem «göttlichen Recht» zu gestalten. Die Bauern wünschen sich eine friedliche Welt, in der sie nicht länger geschunden werden. Sie skizzieren die demokratische Ordnung von Gemeinden und Genossenschaften, die sich selber verwalten und beistehen. Die einfachen Menschen sollen von ihrer Arbeit in Würde leben.

In den ersten Gefechten erringen die Bauernhaufen Siege, weil sie ihre Gegner überrumpeln. Fatalerweise überschätzen sie ihre Stärke, bald geht eine Schlacht nach der anderen verloren. Zwar sind die Aufständischen zahlenmässig überlegen, doch die Fürstenheere sind besser ausgerüstet. Im Herbst 1525 besiegen sie die letzten Bauern, die Anführer werden gefoltert und enthauptet. Kaiser und Papst bedanken sich für die Wiederherstellung der Ordnung.

Für Deutschland hat die Niederlage Folgen bis heute. Die Fürsten bauen ihre Macht aus und errichten absolutistische Staaten, welche die Bevölkerung als Untertanen traktieren. Politische Partizipation gibt es keine, für Jahrhunderte ist die demokratische Entwicklung blockiert.

Die illegale Landsgemeinde von Huttwil

1525 sind die eidgenössischen Bauern nur am Rand des Kriegs beteiligt, 1653 machen sie Ernst – sie lancieren den Schweizer Bauernkrieg. Den Anstoss gibt wiederum das Geld. Weil die städtischen Obrigkeiten das Münzgeld abwerten und die Währungsverluste nicht ausgleichen, werden viele Bauern in den Bankrott getrieben. Im Februar 1653 machen die Bewohnerinnen und Bewohner des Entlebuchs eine Prozession zur Wallfahrtskirche Heiligkreuz. Die Männer schliessen einen Bund und schwören, keine Steuern mehr zu zahlen. Der Zürcher Rat warnt die anderen Städte, eine «Revolution» sei im Gang. Zum ersten Mal überhaupt wird hier der Begriff im heutigen Sinn benutzt, lange vor der Französischen Revolution von 1789.

Im Mai versammeln sich Rebellen aus Luzern, Bern, Solothurn, Basel und dem Aargau in Huttwil zu einer illegalen Landsgemeinde. Sie verlangen Freiheit und politische Mitbestimmung. Sie formieren einen eidgenössischen Bauernbund, welcher der Tagsatzung der Städte entgegentritt. Dann belagern sie die Städte Luzern und Bern und stoppen die Lebensmittelzufuhr. Sie wollen die Regierungen zum Rücktritt zwingen und die demokratische Verfassung der Eidgenossenschaft realisieren.

Für die Städte ist die Lage nun mehr als brenzlig, das Momentum ist auf der Seite der Bauern. Sie sind dem Tagsatzungsheer überlegen. Den Obrigkeiten aber gelingt es, auf Zeit zu spielen. Sie machen wirtschaftliche Konzessionen und schliessen mit den Rebellen einen Friedensvertrag. Dann schlägt die mächtige Berner Regierung zu, annulliert den Vertrag und lässt Truppen auf die eigenen Untertanen los. Die Bauern geraten mehr und mehr in die Defensive. Am 4. Juni 1653 verlieren sie das entscheidende Gefecht im aargauischen Mellingen, der Bauernkrieg ist zu Ende.

Drei Jungbauern aus Schüpfheim wollen indes die Niederlage nicht akzeptieren. Als Tellen kostümiert, führen sie am 29. September auf eine Luzerner Ratsdelegation ein Attentat aus. Kurz darauf werden die Männer gefasst und verurteilt, der Kopf des Hans Stadelmann wird ans Luzerner Stadttor genagelt. Wie Wilhelm Tell wollten sie die «Tyrannen» beseitigen. Sie rufen nicht mehr das «göttliche Recht» an wie die deutschen Rebellen, sondern die Geschichte, wie später die französischen Revolutionäre.

Wie die deutschen haben sich auch die Schweizer Bauern überschätzt. Sie blendeten aus, dass der Gegner Söldner rekrutieren konnte. Dennoch ist ihre Niederlage nicht vergeblich. Den Städten sitzt der Schrecken noch lange in den Gliedern. Daher machen sie den Landgebieten Zugeständnisse. In der Schweiz entsteht keine absolutistische Herrschaft. Die Bauern integrieren sich in den entstehenden Bundesstaat, werden gar Teil der nationalen Ideologie. 1939 formuliert der Bauernfunktionär Ernst Laur sein legendäres «Schweizer Art ist Bauernart».

Ihre Integration ist wohl der Grund, warum Schweizer Bauern und Bäuerinnen heute nicht mit ihren Traktoren vor dem Bundeshaus auffahren. Noch haben sie bessere Arbeitsbedingungen als ihre europäischen Kollegen. Allerdings braucht es nicht viel, bis die Stimmung kippt, wie die Demonstrationen der letzten Jahrzehnte auf dem Bundesplatz zeigen. Die Lage aller Landwirte bleibt labil, auch wenn sie sich ihren Platz in der Demokratie gesichert haben.

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