Samstag, November 23

Die Explosion der Klagesummen zwingt Swiss Re, die Reserven im amerikanischen Haftpflichtgeschäft massiv aufzustocken. Das Gewinnziel des Konzerns für 2024 wird dadurch Makulatur. Dennoch jubeln die Aktionäre.

Ökonomisch scheint die Inflation zumindest vorerst besiegt. Im September fiel sie in den USA auf 2,4 Prozent, den tiefsten Stand seit dreieinhalb Jahren. Doch für die Versicherungswirtschaft steigt die Teuerungswelle noch immer an: Die Beilegung von Klagen und Haftungsansprüchen kostet sie immer grössere Summen. Letztes Jahr verursachten Haftpflichtfälle in den USA Kosten von 143 Milliarden Dollar. Das ist ein Drittel mehr als die Schäden durch Naturkatastrophen wie Hurrikane.

Die Inflation der Klagen und Kosten zwingen den Rückversicherer Swiss Re nun dazu, die Reserven im US-Haftpflichtgeschäft um 2,4 Milliarden Dollar aufzustocken. Damit belaufen sich die Rückstellungen im laufenden Jahr auf 3,1 Milliarden Franken. Im Neugeschäft erhebt Swiss Re zudem einen Unsicherheitszuschlag, um für alle Fälle gewappnet zu sein.

Rückstellungen schmälern Jahresgewinn

Man habe eine umfassende Überprüfung der Rückstellungen in den Sach- und Haftpflichtsparten vorgenommen und dabei die neuesten Branchendaten und rechtlichen Trends berücksichtigt, wird CEO Andreas Berger in einer Mitteilung vom Donnerstag zitiert. Er betonte, dass das gesamte US-Haftpflichtgeschäft durchleuchtet wurde, «einschliesslich aller früheren Zeichnungsjahre». Mit den jüngsten Korrekturen befänden sich die Rückstellungen nun am oberen Rand des besten Schätzwertes.

Als Folge davon muss Swiss Re die Gewinnziele nach unten korrigieren. Das dritte Quartal, die Details erfolgen in einer Woche, wird nur knapp im Plus abschliessen. Für das ganze Jahr erwartet der Konzern nun einen Gewinn von mehr als 3 Milliarden Dollar. Bislang lag die Zielmarke bei über 3,6 Milliarden Dollar.

Aktienkurs auf höchstem Stand seit 22 Jahren

Gleichwohl reagierten die Anleger geradezu euphorisch auf die Nachrichten. Der Swiss-Re-Aktienkurs schoss zeitweise um mehr als 9 Prozent in die Höhe und erreichte den höchsten Wert seit 22 Jahren. Vom damaligen Absturz nach dem Platzen der New-Economy-Blase hatte sich der Titel bis heute nie ganz erholt.

Offenbar hatten die Aktionäre weit höhere Anpassungen bei den Rückstellungen erwartet. Die Überprüfung hatte noch Bergers Vorgänger Christian Mumenthaler Ende vergangenen Jahres eingeleitet. Seither hatte der Versicherer den Markt mit Studien auf die aus dem Ruder laufenden Kosten im US-Haftpflichtgeschäft vorbereitet. Die Anleger sind offenbar froh, dass diese nun nicht mit noch höheren Rückstellungen zu Buche schlagen.

Soziale Inflation dürfte weiter steigen

Dabei sind die Aussichten für die Industrie wenig erfreulich. Ein Ende der sozialen Inflation, so nennt die Versicherungswirtschaft den Anteil der Teuerung, der sich ökonomisch nicht erklären lässt, ist nicht in Sicht. Gemäss der jüngsten Studie von Swiss Re von Anfang September befindet sie sich gegenwärtig in der dritten Aufschwungsphase nach zwei Peaks in den 1980er und den nuller Jahren.

Waren in den früheren Zyklen die Zulassung von rückwirkenden Klagen und Sammelklagen die Treiber der Kosteninflation, wird der seit 2015 anhaltende Aufschwung von sogenannten Mega-Urteilen sowie höheren Kompensationen für nicht-ökonomische Schäden gefüttert. Letztes Jahr sprachen amerikanische Gerichte den Opfern von Unfällen mit Körperverletzungen in 27 Fällen Entschädigungen von mehr als 100 Millionen Dollar zu. Für die Erstversicherer sind die Fälle kaum voraussehbar und schwierig zu modellieren.

Phänomen könnte sich auch in Europa ausbreiten

Dahinter steht laut der Studie, dass die Klageindustrie aufgerüstet hat. Mit psychologisch sophistizierten Strategien versuchten Anwälte, die Geschworenen zu beeinflussen. Statt wie früher Mitleid mit den Opfern zu wecken, schürten sie gezielt die Wut auf die Angeklagten, indem sie Unternehmen als besonders rücksichtslos und geldgierig darstellten. Bei den Gerichten stossen sie damit auf offene Ohren. Laut der Studie pflegten viele Geschworene eine generell negative Einstellung gegenüber Unternehmen und betrachteten Urteile mit hohen Entschädigungen als Mittel, um soziale Ungleichheiten auszugleichen.

Letztes Jahr erreichte der von Swiss Re berechnete Index der sozialen Inflation mit 7 Prozent den höchsten Wert seit 20 Jahren. Schäden durch Ewigkeitschemikalien, Fettleibigkeit und Algorithmen eröffnen der Klageindustrie neue Angriffsfelder gegen Unternehmen. Für die nächsten Jahre rechnet Swiss Re deshalb mit einem weiteren Anstieg der sozialen Inflation. Derzeit beschränkt sich das Phänomen noch weitgehend auf die USA, in den nächsten Jahren dürfte es sich aber auch in Europa ausbreiten. Neue Vorschriften bei der Produktehaftplicht und der einfachere Zugang zu Finanzierungsquellen verbessern auch hier die Chancen von Klägern.

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