Sonntag, September 8

Die Presseschau des Wahnsinns aus Russland im Februar.

Was eigentlich hätte gesagt werden müssen, hat die russische Propaganda verschwiegen. In diesem Land, das sich zwischen Franz Kafka und George Orwell, zwischen Absurdität und Terror bewegt, ändert sich nichts – die Spirale der Unterdrückung, in der die Gewalt Mittel und Zweck ist, dreht sich nur weiter auf ihren Höhepunkt zu.

Der ungeklärte plötzliche Tod des Oppositionspolitikers Alexei Nawalny ist eine Wegmarke – eine furchtbare zwar, aber nicht überraschend. Und höchstwahrscheinlich werden Putins Geiseln weiter mysteriöse Tode sterben. Die Repression muss härter werden, damit sich die Menschen nicht daran gewöhnen, damit sie weiterhin Angst haben. Und der russische Staat hat genug Geiseln.

Amerikanische Staatsbürger wie den Journalisten Evan Gershkovich und deutsche Staatsbürger wie den 17-jährigen Deutsch-Russen Kevin Lick, der seine Familie in Russland besuchen wollte und wegen Hochverrats verhaftet wurde, sowie jede Menge russischer Staatsbürger – über hundert Nationalitäten, mehr als 190 verschiedene Ethnien.

Tucker Carlsons Interview mit Putin steht auf dem Lehrplan

In Russland gibt es trotz einem sogenannten verrückten Drucker, der im Stundentakt neue Gesetze ausspuckt, kein Gesetz. Im staatlichen Fernsehen wurde stolz über die Beteiligung Russlands an der Ermordung von Maxim Kusminow in Spanien berichtet, einem Piloten der russischen Armee, der einen Helikopter in die Ukraine entführt hatte. Diese aussergerichtliche Hinrichtung in einer Tiefgarage wurde als «Ausführung eines Befehls» bezeichnet.

Für die Medien war das Hauptereignis des Monats Februar Putins Gespräch mit dem amerikanischen Journalisten Tucker Carlson. Kreml-freundliche Blogger und Medien erwähnten das Ereignis etliche Male in ihren Nachrichten. Das Interview selbst wurde in Kinos ausgestrahlt und sogar in den Lehrplan der Schulen aufgenommen.

Die russische Propaganda verbreitete, dass Putins stundenlanger historischer Bericht ein kolossaler Erfolg im Westen gewesen sei und dass die Amerikaner Nawalny deshalb getötet hätten. Der Moderator Wladimir Solowjow sagte in der Sendung «Sonntagabend» des Senders «Russia-One»: Der Westen müsse angeblich «den positiven Effekt» von Putins Interview mit Carlson unterbrechen.

Doch dann, Ende des Monats, verkündete Carlson plötzlich, dass die Entnazifizierung der Ukraine das Dümmste sei, was er je in seinem Leben gehört habe, und dass er mit Putin in vielen Dingen nicht übereinstimme. Nun ist unklar, ob das Interview Teil des Schulprogramms bleibt oder ob es durch die Rede des Präsidenten vor der föderalen Versammlung ersetzt wird. Inhaltlich war es derselbe Unsinn.

Checkliste im Falle einer Verhaftung während Nawalnys Beerdigung

Angeblich sollte die Beerdigung Nawalnys erst nach dieser Rede vom 29. Februar stattfinden. Während der Präsident auf den Bildschirmen des Landes verkündete, dass Russland die Institutionen der Demokratie weiter ausbauen werde, schickte ich meinen Angehörigen in Russland Anweisungen, wie sie sich am 1. März von dem verstorbenen Hauptgegner des Kremls sicher verabschieden können und was bei einer Verhaftung, einem Verhör, einer Durchsuchung zu tun wäre.

Man muss Wasser dabeihaben und den Personalausweis bei sich tragen. Es ist besser, ein Handy ohne Daten mitzunehmen und die Nummer des Anwalts. Man sollte auch Tabletten und Binden einpacken, nur für den Fall. Dazu noch ein dickeres Buch, Zahnpasta und eine Powerbank. Und zieht euch warm an, es kann sein, dass ihr lange im vergitterten Bus sitzen müsst, es sind nur drei Grad draussen, und er ist nicht beheizt.

Auf gar keinen Fall darf man sich provozieren lassen. Und keine Plakate mitnehmen, nicht einmal ein Bild von Nawalny. Es ist besser, bei der Anreise die Blumen unter der Kleidung zu verstecken, damit niemand in der Metro etwas sieht und man nicht vorzeitig aufgehalten wird.

Dasselbe Völkergefängnis wie in Zeiten der UdSSR

Wie sind wir dorthin gekommen, wo wir jetzt stehen? Es war kein weiter Weg. Von Juri Andropow, dem ehemaligen Vorsitzenden des Komitees für Staatssicherheit (KGB), der das Land bis 1984 führte, bis zu Wladimir Putin, einem Vertreter der gleichen Struktur (FSB), dauerte es nur 15 Jahre, nicht einmal eine Generation. Das Land ist im Grossen und Ganzen dasselbe Völkergefängnis geblieben, auch wenn es weniger Völker gibt, die Kerkermeister blieben dieselben wie während der UdSSR .

Wenn man bedenkt, dass das Niveau der Repression im modernen Russland höher ist als zu Zeiten von Nikita Chruschtschow oder Leonid Breschnew und die technische Ausstattung viel besser, kann ein Besuch der Beerdigung eines Oppositionspolitikers gefährlich sein.

Journalisten und Forscherinnen des russischsprachigen Online-Medienportals «Project» haben Straf- und Verwaltungsverfahren zwischen 2018 und 2023 analysiert. In diesen sechs Jahren waren in Russland mehr als 116 000 Menschen Repressionen ausgesetzt, von denen 11 442 strafrechtlich verfolgt und 105 000 mit Geldstrafen belegt wurden. Im vergangenen Jahr starben mindestens fünfzig Menschen in Haftanstalten, auf Polizeistationen und bei Verhaftungen, wie das unabhängige Medium «Verstka» berichtet. Dennoch nahmen Tausende an der Beerdigung Abschied. Der Zulauf hält nach wie vor an, das Blumenmeer auf Nawalnys Grab wächst.

Die Kirche, in der sein Leichnam aufgebahrt wurde, die Strasse zur Kirche, die Strasse zum Friedhof und der Friedhof selbst waren umzäunt. Überall standen Polizeiautos, Polizeikordons, Scharfschützen waren auf den Dächern postiert, Kameras in der Kirche montiert und ein Schild am Friedhofstor, das ankündigte, dass der Friedhof für Besucher gesperrt sei.

Das freie Russland hätte für viele mit der Entlassung Nawalnys begonnen

Der Tod des wichtigsten politischen Gefangenen war für viele Menschen ein Schock; in ihrer Vorstellung hätte das freie Russland mit der Entlassung Nawalnys aus dem Gefängnis begonnen. Es war, als ob diese Hoffnung mit ihm begraben wurde. Dieser Schmerz über den Verlust schwappte mit Blumen und Plakaten auf die Strassen der Städte über.

«Verstka» vermeldete, dass am Tag nach der Nachricht von Nawalnys Tod in 140 Städten Kundgebungen zu seinem Gedenken stattfanden oder spontane Gedenkstätten entstanden. Jeden Tag trugen die Menschen Blumen zu den Denkmälern für die Opfer der politischen Repressionen, und jeden Tag entfernten die Behörden diese Blumen. Insgesamt wurden laut dem Online-Projekt «Re:Russia» in 232 russischen Städten rund 500 Gedenkstätten für Alexei Nawalny errichtet.

Nach Angaben des russischen Menschenrechtsprojekts «OVD-Info» wurden zwei Tage danach, bis zum Abend des 18. Februar, bereits mehr als 380 Personen in 39 russischen Städten festgenommen.

Im sibirischen Surgut verprügelten Polizeibeamte einen Mann, weil er Blumen zu einem Denkmal für die Opfer politischer Repressionen gebracht hatte. Putins Pressesprecher Dmitri Peskow sagte, dass die Leute «in Übereinstimmung mit dem Gesetz» festgenommen worden seien, weil sie Blumen niedergelegt hätten, aber niemand präzisierte, was für ein Gesetz das war.

Als das Grab des Oppositionellen unter Blumen verschwand, hinterliess dort jemand einen Zettel mit der Aufschrift: «Wir werden dich so warm zudecken, dass ganz Russland sich erwärmt.» Am Tag der Beerdigung wurden die Menschen nicht verhaftet, aber schon vom nächsten an wurden sie zu Hause aufgesucht. Sie sind alle von den Kameras erkannt worden und werden nun still und leise einer nach dem anderen abgeurteilt.

Der Kreml habe Nawalnys Familie nichts zu sagen, sagte Peskow

Vor der Beerdigung ging die Polizei zu den Häusern der Oppositionellen und warnte sie, einige wurden vorsorglich festgenommen. Die staatlichen Medien ignorierten die Verabschiedung von Nawalny. In Russland veröffentlichte lediglich die Zeitung «Sobesednik» (zu Deutsch: der Gesprächspartner) einen grossen Artikel über den Oppositionellen selbst und später einen weiteren über die Beerdigung. Alle Auflagen wurden aus dem Verkauf genommen und die Restauflage aus der Druckerei.

Peskow sagte, der Kreml habe der Familie von Alexei Nawalny am Tag seiner Beerdigung nichts zu sagen. Putin hielt an diesem Tag eine Sitzung mit dem Sicherheitsrat ab, in der es um Bedrohungen aus dem Weltall ging. In den regimetreuen Telegram-Kanälen und sonstigen Medien wurde darüber diskutiert, dass fast niemand gekommen sei, um Nawalny zu verabschieden, denn «wer braucht schon diesen unbekannten Blogger».

Am Tag der Beerdigung bewunderte das russische Fernsehen die Rede des Präsidenten vom Vortag, diskutierte über die Proteste in den Vereinigten Staaten und die Krankheit «Alter» von Joe Biden, «REN TV» zeigte den Lieblingsfilm des toten Oppositionspolitikers, «Terminator 2: Der Tag der Abrechnung».

Als Nawalny zu Grabe getragen wurde, riefen Tausende von Menschen: «Russland wird frei sein, Russland wird glücklich sein», «Nein zum Krieg!» und «Putin ist ein Mörder», «Frieden für die Ukraine! Freiheit für Russland!», «Ukrainer sind gute Menschen», «Bringt die Soldaten nach Hause». Vorbeifahrende Autos hupten zur Unterstützung. Und natürlich weinten alle. Die Menschen im Livestream und ich und meine Verwandten am Telefon.

So wie wir uns im August 2008 anriefen und weinten, als Russland Georgien angriff, 2014, als es die Krim besetzte und einen Krieg im Donbass begann, und vor zwei Jahren, als es die Ukraine überfiel.

Der zweite Jahrestag des Ukraine-Kriegs fand in den staatlichen Medien nicht statt

Russische Oppositionsmedien zeigten am 22. Februar das Ausmass der Verbrechen ihres Staates auf, während sich die staatlichen Medien nicht einmal daran erinnerten, dass Russland seit zwei Jahren ununterbrochen ukrainische Städte zerstörte.

In Moskau wurde ein Filmfestival mit dem Titel «Zeit der Helden» ausgerichtet, das auf den zweiten Jahrestag der Invasion in der Ukraine abgestimmt war. Organisiert wurde es vom Sender «RT», was bedeutet, dass die komplette Ausrüstung der Patrioten aufgefahren wurde: Argumente für den «heiligen Krieg», den «Sieg über die Lügen ausländischer Medien», traditionelle Werte, Gedichte, Lieder und mehr als zwanzig angebliche Dokumentarfilme über den Krieg und die Wahrheit dahinter.

Im Übrigen nimmt in Russland alles seinen gewohnten Lauf. Der 70-jährige Oleg Orlow, Co-Vorsitzender des internationalen Menschenrechtszentrums Memorial und Träger des Andrei-Sacharow-Preises für geistige Freiheit, der sich 1995 während des ersten Tschetschenienkriegs freiwillig gegen Geiseln in Budjonnowsk austauschen liess, wurde wegen «Verunglimpfung der Streitkräfte» zu zwei Jahren und sechs Monaten Haft in einer allgemeinen Regimekolonie verurteilt.

Auf dem Flughafen von St. Petersburg wurde die 24-jährige Tätowiererin Darya Krichker wegen «Beleidigung der Gefühle von Gläubigen» festgenommen, da sie «frevelhafte Tätowierungen» mit religiösen Motiven und Katzenbildern anfertigte. Anna Kusnezowa, stellvertretende Vorsitzende der russischen Staatsduma, erklärte, es sei erwiesen, dass das Kiewer Regime Experimente an Kindern in psychiatrischen Abteilungen durchführe. In den Städten seien mobile Teams von Bioingenieuren unterwegs, die von ausländischen privaten Militärfirmen begleitet würden.

Der Gewinner des Wettbewerbs «Bester Lehrer Russlands» wurde von einem Veteranen der «Spezialoperation» getötet. Das Land hat einen Radiosender mit dem Namen «Stolz» ins Leben gerufen, der das «Gefühl von Patriotismus» vermitteln soll.

Der russisch-orthodoxe Kirchenvertreter Oleg Syrjanow warnte davor, dass LGBT und gleichgeschlechtliche Ehen zu Abtreibungen führten. Im Rahmen ihrer anhaltenden Nekropolitik haben die Abgeordneten der Staatsduma einen Gesetzentwurf vorgelegt, der es russischen Frauen erlaubt, «Kadaver» zu ehelichen, das heisst offiziell Soldaten zu heiraten, die in Putins Krieg gefallen sind. Nicht umsonst wurde das Jahr 2024 zum «Jahr der Familie» erklärt.

Putin sagte, Russland habe eine tolerante Haltung gegenüber Menschen mit «nichttraditioneller sexueller Orientierung». Zwei Tage zuvor stürmten Ordnungskräfte in Tula das Kulturzentrum Tipografiya, in dem eine «Amore»-Party stattfand, weil sie der Meinung waren, dass dort «nichttraditionelle Werte» propagiert würden. Mehrere Teilnehmer der Party wurden nach draussen gezerrt, geschlagen, zu Boden geworfen, getreten, auch gegen den Kopf.

Diktaturen enden oft abrupt

Was hätte gesagt werden müssen, hat die Propaganda verschwiegen. Nach dem Tod von Alexei Nawalny wurde deutlich, dass sich das Land im Stadium eines kalten Bürgerkriegs befindet. Auf der einen Seite des Konflikts stehen die staatliche Macht und die Machtstrukturen – auf der anderen unbewaffnete Bürger. Bislang scheint dieser Kampf aussichtslos zu sein, aber das heisst nicht, dass er sinnlos ist. Diktaturen enden oft abrupt.

PS: Ein Freund, ein Fotograf, der den Balkan bereist, schreibt von dort: «Wenn in Serbien jemand in der Familie stirbt, ist es üblich, eine Todesanzeige zu verfassen – eine kleine Anzeige mit Foto, Name, Vorname, Geburts- und Sterbedatum sowie zwei Zeilen über den Verstorbenen. Diese Anzeigen werden in Zeitungen in speziellen Rubriken gedruckt, aber auch an Laternen und Hauswänden angeschlagen. Ich weiss nicht, zu welcher serbischen Familie Alexei Nawalny gehörte, aber hier kann man diese Anzeige auf den Strassen von Belgrad, Novi Sad und sogar in kleinen Städten und in Dörfern sehen.»

Irina Rastorgujewa wurde 1983 in Juschno-Sachalinsk, Russland, geboren und lebt als freie Autorin in Berlin. 2022 erschien ihr Buch «Das Russlandsimulakrum» bei Matthes & Seitz.

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