Freitag, November 1

Trump ist das Symptom epochaler Veränderungen: Auf die Ära der Freiheit folgt die Ära des Dschungels mit dem Recht des Stärkeren. Was eine zweite Amtszeit für die Welt bedeuten würde.

Als Kamala Harris ihre Kandidatur ankündigte, wurde sie von einer Welle des Enthusiasmus getragen. Der alte Mann hatte aufgegeben, das Rennen ums Weisse Haus war wieder offen. Alles schien möglich. Doch der Zauber des Anfangs ist verflogen. Je näher der Wahltag rückt, umso deutlicher werden Harris’ Defizite. Ihr grösstes Handicap ist die mangelnde Bekanntheit bei unentschiedenen und eher apolitischen Wählern. Wofür sie steht, bleibt vielen Amerikanern ein Rätsel.

Donald Trump hingegen kennt jeder, im Guten wie im Schlechten. Und er hat aufgeholt: bei weissen Arbeitern in den Swing States, bei Schwarzen und Latinos, die eigentlich zu den treuen Wählergruppen der Demokraten zählen. Trump, das Comeback-Kid? Seine Chancen stehen nicht schlecht.

Das amerikanische Imperium überdehnt seine Kräfte

Was der Republikaner auch sagt und tut, ist Teil einer irrwitzigen und deshalb faszinierenden Personality-Show. Trump, Trump, Trump: Neben ihm sehen alle anderen wie Statisten aus. Genau das ist die grösste Gefahr. Man neigt dazu, den jede Konvention sprengenden Selbstdarsteller zu überschätzen.

Trump ist jedoch nur ein Symptom epochaler Veränderungen. Männer machen Geschichte, heisst es – und Frauen natürlich auch. Aber sie können nur verstärken, was ohnehin in der Epoche angelegt ist. Hitler wäre ein verkrachter Künstler geblieben, hätte er in einem stabilen und prosperierenden Deutschland gelebt.

Wie stark würde eine zweite Präsidentschaft des Republikaners die Welt verändern? Das ist die falsche Frage. Zutreffender ist die Überlegung, wie sehr er den Wandel beschleunigen kann. Und die geopolitischen Verhältnisse werden gerade umgepflügt, was wir als Abfolge von Krisen wahrnehmen.

Trump sei Isolationist, werfen ihm Kritiker vor. Statt Freihandel, Demokratie und Menschenrechte zu fördern, propagiere er Nationalismus und Protektionismus. Das stimmt.

Doch nicht Trump zerstört die liberale Weltordnung, jene historische Sondersituation, in der Washington einen unipolaren und leidlich stabilen Rahmen vorgab. Was mit dem Mauerfall begonnen hatte und mit dem Abzug aus Afghanistan unwiderruflich zu Ende ging, war für den Westen eine glückliche Fügung.

Dass eine einzige Grossmacht einer Ära so ihren Stempel aufdrückt, wie dies Amerika von 1989 bis 2021 gelang, ist indes eine Anomalie. Trump erkannte das früher, und er handelte konsequenter danach als andere Präsidenten. Schon sein Vorgänger Barack Obama war nicht mehr bereit, den Weltpolizisten zu spielen. Er beteiligte sich nur widerwillig am Sturz des libyschen Diktators Ghadhafi, und er liess die syrische Opposition gegen Asad, den Schlächter von Damaskus, im Stich.

Die «Responsibility to Protect», die Verpflichtung, ein Volk vor seinem Machthaber zu schützen, war das Hochamt der liberalen Weltordnung. Doch der ungeheure moralische Anspruch überdehnte die Kräfte des amerikanischen Imperiums. Daher setzte Obama wieder mehr auf nationale Interessen und nahm den Rivalen China in den Blick. Der Paradigmenwechsel blieb aber halbherzig.

Erst Trump, der Darwinist, für den Politik ein brutaler Kampf um Macht und Wohlstand ist, bejaht den Imperativ der Gegenwart ohne zu zögern. Für ihn ist es ein lächerlicher Gedanke, gratis für Europas Sicherheit zu sorgen. Genauso lächerlich wie die Vorstellung, Washington werde der Ukraine zum Sieg verhelfen, während die EU dabei zuschaut. Der Instinkt Trumps ist für jeden Staat, der haushälterisch mit seinen Ressourcen umgeht, eigentlich naheliegend.

Amerika ist nicht schwächer geworden. Es gibt in absoluten Zahlen mehr Geld für Verteidigung aus denn je. Wirtschaftlich lässt es das stagnierende Europa weit hinter sich. Aber andere Mächte sind stärker geworden. Russland hat den Kollaps der Sowjetunion überwunden und beansprucht erneut die Position einer militärischen Grossmacht.

In einem Sturmlauf, wie ihn die Weltgeschichte noch nie sah, ist China vom Entwicklungsland zum Konkurrenten der USA aufgestiegen. Unübersehbar ist das in der härtesten Währung der Macht: dem Militär. Seit 2005 wuchs Chinas Kriegsmarine von 216 auf 370 Schiffe, und ein Ende der Aufrüstung zeichnet sich nicht ab. Die U. S. Navy hingegen schrumpfte von 1000 Schiffen im Jahr 1960 auf jetzt noch knapp 300. Zum ersten Mal seit der Kapitulation des kaiserlichen Japan ist der Pazifik nicht mehr das amerikanische Meer.

Als Washington die Kleinkriege an der Peripherie führte, im Irak oder in Afghanistan, kletterte der Verteidigungsetat vorübergehend auf 5 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Heute liegt er wieder bei 3 Prozent wie auf dem Höhepunkt der Friedensdividende im Jahr 1999. Doch inzwischen beherrschen Krisen die Weltpolitik. Auf die Ära der Freiheit folgt die Ära des Dschungels: Es gilt wieder das Recht des Stärkeren, in der Ukraine genauso wie im Nahen Osten.

Der relative Bedeutungsverlust der amerikanischen Streitkräfte setzte schon vor langem ein und wurde nur durch die einzigartige Konstellation einer unipolaren Ordnung kaschiert. Vor einem Jahrzehnt wandten die USA für Verteidigung so viel auf wie die nächsten 18 Länder zusammen. Heute entsprechen die Ausgaben dem Budget der nächsten 7 Länder.

Es gibt kein Machtvakuum: Schwächeln die USA, profitiert China

Selbst wenn Washington es wollte, könnte es niemandem seinen Willen so aufzwingen wie in der liberalen Weltordnung. Der relative Rückzug Amerikas ist keine Laune, sondern akzeptiert die Macht des Faktischen. Wer sich wie Joe Biden nach den guten alten Zeiten zurücksehnt, erleidet Schiffbruch. Seine Friedenspläne für Gaza und Libanon sind Makulatur. Die «lame duck» im Weissen Haus ist seither noch eine Spur lahmer.

Weil Trump die Realität nicht nüchtern beschreibt, sondern mit Drohungen und Beschimpfungen vorzugsweise der Verbündeten ausschmückt, gilt er als Isolationist. Eine neue Realpolitik ist jedoch etwas grundlegend anderes als der Isolationismus vor 1941, als Pearl Harbor die Vereinigten Staaten definitiv auf die Weltbühne katapultierte.

Die USA können sich nicht auf ihren Kontinent konzentrieren, wie das im 19. Jahrhundert der Fall war. Damals herrschten europäische Reiche über den Globus; die USA waren noch kein Faktor der internationalen Politik. Heute sind sie die wichtigste Ordnungsmacht – und sie kassieren dafür eine fette Prämie. Der Dollar ist die Reservewährung der Welt. Das garantiert Washington immensen Einfluss bis hin zur wirtschaftlichen und politischen Erpressung.

Nur eines verbindet das 19. und das 21. Jahrhundert. Es gibt kein Machtvakuum. Würde Washington in Selbstgenügsamkeit verfallen, müsste es akzeptieren, dass an seiner Stelle andere die Ordnungsfunktion ausüben. Das wäre China, mit Russland und allenfalls Indien im Schlepptau.

Dieses Szenario ist ausgeschlossen. Noch nie in der Weltgeschichte hat ein Imperium aus freien Stücken abgedankt. Rom ist nicht freiwillig untergegangen und das British Empire auch nicht. Selbst verbiesterte Trump-Anhänger wollen, dass ihr Land stark bleibt und gefürchtet wird. Niemand soll ihm einen fremden Willen oktroyieren können.

Das ist nicht Isolationismus, sondern Egoismus – und kluge Selbstbescheidung. Obwohl die Cheerleader der untergegangenen liberalen Weltordnung das nicht gerne hören, ist es vernünftig, wenn die USA ihre Kräfte fokussieren. Sie könnten das erste Imperium sein, das auf diese Weise der Gefahr von Überdehnung und Abstieg entgeht.

Die Rolle rückwärts zur Realpolitik lässt sich schon heute in Washington beobachten. So verweigert Biden der Ukraine die Perspektive auf eine Mitgliedschaft in der Nato. Dass sich das Verhältnis zu Russland nicht weiter verschlechtert, erscheint ihm wichtiger als die Sicherheitsgarantie für Kiew. In der Logik der führenden Mächte hat das eine gewisse Plausibilität. Das Gleichgewicht der Grossen ist wichtiger als das Schicksal der Kleinen. Schön ist es trotzdem nicht.

Mit Trump im Weissen Haus würde der Übergang zur neuen Weltordnung noch holpriger. Die Ukraine etwa kann von ihm noch weniger erwarten als von Biden. Alliierte sind für ihn kein Selbstzweck, sie müssen liefern. Die Partnerschaft ist nicht auf Werten gebaut, sondern auf gegenseitigem Nutzen. Eine Partnerschaft bleibt es trotzdem.

Und wenn am Ende Harris gewinnt? Dann wäre der Ton in Washington freundlicher und das Verhältnis zu den Verbündeten verbindlicher. An den geopolitischen Grosstrends ändert das nichts.

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