Mittwoch, Oktober 2

Ein neuer Skandal erschüttert Italiens Fussball. Er zeigt, wie sich das kriminelle Milieu in und um die grossen Arenen im Land breitmacht.

Sie nennen sich «capi», Chefs. Sie geben den Takt in den Fankurven an, reden von Ehre und Ruhm und lassen sich die Logos ihrer Vereine auf die Haut tätowieren. Aber um Fussball geht es ihnen nicht. Und die Fans sind ihnen eigentlich auch egal – es sei denn, es geht ums Geld.

Der neuste Fussballskandal, der Italien dieser Tage heimsucht, wirft ein Schlaglicht auf die Bosse der Fankurven und das kriminelle Milieu, das sich dort breit macht. Am Montag haben die Staatsanwaltschaft und die Antimafia-Behörde von Mailand zum grossen Schlag gegen die Ultras der beiden Fussballklubs Inter Mailand und AC Milan ausgeholt. 16 führende Köpfe der Szene wurden dabei vorsorglich festgesetzt, drei unter Hausarrest gestellt, gegen rund vierzig Personen wird ermittelt.

Vorgeworfen werden ihnen Erpressung, Zugehörigkeit zu kriminellen Vereinigungen, Drogenhandel, Dokumentenfälschung, Körperverletzung und Widerstand gegen die Staatsgewalt. Für einige Mitglieder von Inters «Curva Nord» kommt erschwerend der Tatbestand der Verbindung zur Mafia hinzu.

Drohungen, Einschüchterungen, Schläge

Der Fall zieht weite Kreise: Als Zeugen sollen von den Ermittlern demnächst einige Stars befragt werden, unter ihnen der Meister-Trainer von Inter, Simone Inzaghi, der Vizepräsident Javier Zanetti oder der Captain der AC Milan und Nationalspieler Davide Calabria. Weder die Klubs noch deren Funktionäre, Spieler und Trainer zählen indessen zu den Angeklagten. Giuseppe Marotta, Präsident der «Nerazzurri», wie Inter wegen seiner Klubfarben genannt wird, beeilte sich denn auch festzuhalten, dass sein Klub in dem Verfahren zu den Geschädigten gehöre. «Manchmal gibt es Phänomene, die über das Unternehmen hinausgehen und schwer zu kontrollieren sind. Inter ist eine ehrliche Firma, die transparent handelt.»

Der Skandal weist einige Besonderheiten auf, der ihn von anderen Ermittlungen in der Ultra-Szene unterscheidet. Die von den Medien ausführlich zitierten Abhör-Protokolle und die Aussagen der ermittelnden Behörden vermitteln ein ungewöhnlich detailliertes Bild der Vorgänge.

Da sind zum einen die Drohungen und Einschüchterungen. So soll der Capo der Inter-Ultras den Trainer Inzaghi telefonisch bedrängt haben, damit sich dieser beim Klub-Präsidenten dafür einsetzt, den Ultras 1500 Tickets für das Champions-League-Finalspiel 2023 zwischen Inter und Manchester-City in Istanbul auszuhändigen. Mit prominenten Spielern wie Hakan Calhanoglu oder Nicolò Barella soll sich der Capo sogar persönlich getroffen haben. Unklar ist derzeit, ob es auch bei diesen Begegnungen zu Einschüchterungsversuchen gekommen ist.

Handfeste Drohungen soll es hingegen an den Eingängen ins San-Siro-Stadion in Mailand gegeben haben. Nach Aussagen der Behörden wurden den offiziellen Kontrolleuren Ultras zur Seite gestellt, die Einfluss auf die Zutrittskontrollen nahmen und dafür sorgten, dass auch Kriminelle ins Stadion gelangen konnten. «Die Ultras sagen mir, welchen Personen ich Einlass gewähren soll», wird im «Corriere della Sera» eine Ordnungskraft zitiert. Um sich und seine Kollegen zu schützen, habe er den Druckversuchen nachgegeben. Kontrolleure, die dieses Spiel nicht mitmachen wollten, seien mit Faustschlägen traktiert worden.

Zum andern zeigen die bisherigen Untersuchungen, wie stark die Chefs Einfluss auf das Geschäft in und um das Stadion genommen haben. So sollen illegal erworbene Tickets zu stark überteuerten Preisen weiterverkauft worden sein. Ähnliche Praktiken wurden beim Management der Stadion-Parkhäuser registriert. Und auch der Verkauf von Getränken und Fan-Artikeln soll – mindestens teilweise – von den Ultras der Vereine kontrolliert worden sein. Offenbar kam es sogar zu Absprachen zwischen den beiden verfeindeten Fankurven von Milan und Inter.

Der lange Arm der ’Ndrangheta

Wo es ums Geld geht, ist schliesslich die Mafia nicht weit. In Italien ist es ein offenes Geheimnis, dass die kalabrische ’Ndrangheta im Geschäft rund um die grossen Fussballarenen mitmischt. Schon vor Jahren habe er entsprechende Abhörprotokolle nach Mailand geschickt, so der bekannte Mafiajäger Nicola Gratteri. «Die Unterwanderung der Mailänder Fan-Szene durch die ’Ndrangheta ist nichts Neues», sagte Gratteri.

Wenige Wochen vor der jüngsten Festnahmewelle ist es in Mailand zu einer gewaltsamen Abrechnung gekommen, als ein aus Kalabrien stammender und der ’Ndrangheta angehörender Boss der Inter-Ultras von einem norditalienischen Capo des gleichen Vereins umgebracht wurde. Die Ermittler gehen davon aus, dass hinter der Bluttat ein Führungskampf zwischen zugezogenen und alteingesessenen Bossen steht.

Was sich nach Einschätzung von Beobachtern in den letzten Jahren mit Sicherheit verändert hat, ist die Sichtbarkeit der Szene. Vor noch nicht allzu langer Zeit führten die Capi ein Doppelleben zwischen ihrer zuweilen bürgerlichen Existenz und ihrem Dasein als Bosse in den Kurven. Sie gaben ihre Identität nicht preis und verdeckten jeweils ihr Gesicht, wenn eine Kamera in der Nähe war. Heute präsentieren sich nicht wenige Ultras völlig ungeniert in aller Öffentlichkeit. Ein 2018 aufgenommenes Bild, das von den Medien nun wieder aus den Archiven geholt wird, zeigt einen der nunmehr festgenommenen Bosse der AC Milan händeschüttelnd mit Matteo Salvini, dem Lega-Chef und heutigen Vize-Regierungschef in Rom.

Vor allem aber pflegen die Ultras enge Beziehungen zur Rapper-Szene von Mailand. In den Medien kursieren die Namen von «Lazza» oder «Emis Killa», aufsteigenden Grössen in diesem Milieu. Sie beide verkehrten in der «Curva Sud» der AC Milan, lange bevor sie zu bekannten Gesichtern wurden.

Ein anderer national bekannter Rap-Star ist Fedez, der frühere Partner der bekannten Mode-Influencerin Chiara Ferragni, die in den sozialen Netzwerken ein Publikum von fast 29 Millionen Menschen erreicht. Fedez› Leibwächter gehören mit zu den am Montagmorgen vorsorglich festgenommenen Ultras der AC Milan.

«Privatisiert das San Siro!»

Diese Verbindungen kommen nun Stück für Stück ans Tageslicht. Der «Corriere della Sera» nennt es das «Magma des neuen Mailand» und beschreibt damit etwas pompös, aber durchaus zutreffend das Zusammenkommen einer bestimmten Subkultur aus der Musikszene mit den «Gangstern des neuen Jahrtausends», den Bossen der Fankurven mit ihrer Aura der Gewalt. «Die Fankurven haben sich verändert, Mailand hat sich verändert», schreibt das Blatt. Die Lichter der in den letzten Jahren wieder zu neuem Leben erwachten Stadt leuchteten leider auch hell über den früheren Parias.

Die Fussballvereine stehen diesem neuen Phänomen bisher ziemlich rat- und tatenlos gegenüber. Und auch von der Regierung in Rom, die sonst rasch zur Stelle ist, wenn im Land nach Ruhe und Ordnung gerufen wird, hört man derzeit noch wenig.

Im bürgerlich-liberalen Blatt «Il Foglio» lanciert derweil ein pensionierter, im Anti-Terror-Kampf gegen links und rechts geschulter Untersuchungsrichter eine neue Idee: «Privatisiert das San Siro!», schreibt er. Die Übergabe des Stadions an ein privates Unternehmen würde Abhilfe schaffen. Denn wer das Gelände als eine Art grosses Einkaufs- und Unterhaltungszentrum führe, hätte bestimmt ein Interesse daran, es nicht zu einem rechtsfreien Raum verkommen zu lassen.

Der bekannte Publizist Beppe Severgnini, selbst ein glühender Anhänger von Inter, verlangt demgegenüber eine nationale Gewissensprüfung. Erstens müssten sich die Fans von den Ultras abgrenzen. Zweitens sollten die Klubs ihre Haltung überdenken: «Sie kannten das Monster und wollten es zähmen.» Das sei falsch – und zudem nicht gelungen. Drittens dürfe man nicht mithelfen, die Ultras gesellschaftlich zu integrieren. Wer diese als Leibwächter engagiere oder sich mit ihnen ablichten lasse, trage zu ihrer Normalisierung bei. «Straftäter bleiben Straftäter, auch wenn sie sich mit der Aura des Sports schmücken.». Und viertens dürfe der Staat nicht passiv zuschauen, was in den Stadien passiere.

Mit Blick auf die Geschichte zeigt sich Severgnini optimistisch. Die italienischen Revolutionen seien stets von Mailand ausgegangen. «Hoffen wir, dass das auch dieses Mal geschieht.»

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