Freitag, Oktober 25

Alfred Gantner und seine Kompass-Mitstreiter weibeln in der ganzen Schweiz gegen eine engere Anbindung an die EU. Sie haben eine Kampagne hochgefahren, bevor die Befürworter starten können.

In einem Veranstaltungslokal am Rande der Winterthurer Altstadt steht Kurt Aeschbacher und tippt auf seinem Handy herum. Der pensionierte Fernsehmoderator ist gekommen, um über die Initiative der Gruppierung Kompass Europa zu sprechen. Nach einem früheren Anlass hatte er bedauert, dass kaum Frauen anwesend waren. An diesem Abend sind nun einige gekommen. Vorne steht ein Plakat der Kompass-Initiative. Die frühere Spenglerei hat unterkühlten Industrie-Chic. Der Saal ist mit rund hundert Leuten gut gefüllt, aber nicht voll, als Aeschbacher um Punkt 19 Uhr beginnt.

Aeschbacher erläutert, was ihn zum Engagement bei der EU-kritischen Gruppierung bewogen hat. Er spricht gefühlsbetont, wie man es vom Fernsehen kennt. «Ich schätze die extrem einzigartigen Bürgerrechte in der Schweiz.» Nicht nur die Politik und Beamte seien in der Lage, Entscheide zu treffen, sondern auch die Bürger. Kompass habe eine «furchtbare Unruhe» in die Politik gebracht. «Die Repräsentanten im Parlament und anderswo sehen ihre Macht infrage gestellt.»

Der grosse Auftritt aber gehört Alfred Gantner, einem der drei Initianten von Kompass Europa, den Gründern der Investment-Gesellschaft Partners Group. «Wahrscheinlich sind eure Pensionskassengelder auch da investiert», sagt Aeschbacher, der primär als Moderator dient. Das weltweit tätige Unternehmen habe über 150 000 Mitarbeiter. Dabei handelt es sich nicht um die Zahl der Angestellten der Partners Group, sondern um jene von Firmen, die die Investment-Gesellschaft kontrolliert. Doch die Botschaft ist klar. «Die Initianten wissen, was es heisst, in Europa zu wirtschaften», sagt Aeschbacher.

Von Saal zu Saal

Diese mussten einigen Spott einstecken. Die Milliardäre würden keine Mühe haben, die nötigen Unterschriften einzukaufen, hiess es. Doch Gantner wird unterschätzt. Er und seine zwei Mitstreiter haben nicht nur viel Geld, sondern auch Zeit. Während gut eines Monats spricht einer der drei Partners-Gründer fast jeden Tag irgendwo in einem Saal. Einen Marathon von Auftritten, von einer Agentur straff organisiert, absolviert Urs Wietlisbach. An diesem Abend referiert er parallel in Schwyz. Nur in der Westschweiz scheint Kompass Mühe zu haben, Leute zu rekrutieren. Dort treten wiederholt auch SVP-Exponenten auf, obwohl sich Kompass auf EU-kritischer Seite als Alternative sieht.

Vor allem aber hat Gantner eine Mission. Bei den Europa-Freunden gibt es niemanden, der so engagiert auftritt – von Simon Michel, dem Ypsomed-Unternehmer und FDP-Nationalrat, abgesehen. «Ich bin fundamental überzeugt, dass wir am wichtigsten Scheideweg seit langem stehen», sagt Gantner. Er, der direkt am Vierwaldstättersee ein riesiges Anwesen gebaut hat, gibt den Anwesenden das Gefühl, er sei einer von ihnen. «Dank unserer starken Währung können wir so günstig in die Ferien.» Die freiheitliche und dezentrale Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der Schweiz sei nicht mit der EU kompatibel. «Sehr gut!», ruft ein alter Mann. Gantner schmunzelt.

Er beginnt mit viel EU-Bashing. Und beklagt sich, wie aufwendig es wegen der Gesetzesflut sei, in Ländern der Europäischen Union zu geschäften. In der EU würden die Schulden durch die Decke gehen. Die Arbeitslosenrate in der Schweiz sei tiefer, die Wirtschaftsleistung pro Kopf doppelt so hoch. «Wir haben es viel besser gemacht.» Das sei dem Schweizer System zu verdanken.

Den Nutzen der bilateralen Binnenmarktabkommen relativiert Gantner. Die Exporte nach China seien in den letzten zwanzig Jahren viel stärker gestiegen. Die Folgekosten wie gestiegene Mieten seien um ein x-Faches höher. Der ungesteuerte Zugang zum Arbeitsmarkt über die Personenfreizügigkeit sei nicht die Lösung. Die Schweiz müsse eine eigenständige Auswahl der Arbeitskräfte machen. «Wir können doch jederzeit in der EU rekrutieren.»

Befürworter belächelt

Das geplante Vertragspaket mit der EU, an diesem Abend wahlweise als Rahmenabkommen oder Rahmenvertrag 2.0 bezeichnet, ist komplex. Gantner bricht die Materie herunter. Bei der dynamischen Rechtsübernahme wisse die Schweiz nicht, was auf sie zukomme. «Würden Sie einen Mietvertrag unterschreiben, bei dem Sie nicht wissen, welche Wohnung es ist?» Er mahnt vor drohenden «Bürokratie-Granaten». «Glauben Sie mir: Ein grosser Teil der Regulierungskosten wird weitergegeben!» Ein Raunen geht durch den Saal.

Zur Auflockerung bedient sich Gantner mitunter Kampagnenmethoden, die amerikanisch anmuten. Er macht sich über Befürworter des EU-Vertragspakets wie Simon Michel, Stefan Brupbacher, den Direktor des Industrieverbands Swissmem, oder die Europarechtlerin Christa Tobler lustig. Das Publikum lacht. Lob erhalten dagegen der EU-skeptische Gewerkschaftspräsident Pierre-Yves Maillard und die zuwanderungskritische SP-Nationalrätin Jacqueline Badran.

Gantner tritt mit dem Selbstbewusstsein des erfolgreichen Finanzunternehmers auf. Er ist rhetorisch geschickt, hat Charisma und wirkt streckenweise wie ein Prediger. Zwei weitere Kompass-Mitglieder, die sprechen, erscheinen dagegen blass. Gantner hantiert aber auch mit gewagten Behauptungen. So sagt er, die Schweiz müsste mit dem Vertragspaket wahrscheinlich etwa 8000 Gesetze übernehmen. Dabei konnte eine renommierte Wirtschaftskanzlei, die Kompass angefragt hatte, die Zahl nicht berechnen. Auch der Bundesrat konnte in der Antwort auf einen Vorstoss des FDP-Präsidenten Thierry Burkart keine Antwort geben.

Beim Bahnverkehr behauptet Gantner, die EU wolle die Schweiz zur Liberalisierung zwingen. «Meinen Sie, ein privater Unternehmer fährt ins Entlebuch?» Der fahre von Zürich nach Genf oder Frankfurt. Den SBB würden die unrentablen Strecken bleiben. Dabei betrifft das Landverkehrsabkommen mit der EU lediglich das beschränkte Segment des internationalen Verkehrs.

Doch Gantner geht es nicht um das Kleingedruckte, sondern um das Grundsätzliche. Die Schweiz habe seit dem Jahr 2014 falsch verhandelt, sagt er. «Die EU kann uns keine Extrawürste geben, wenn wir am Binnenmarkt teilnehmen wollen.» Der Bundesrat müsse eine Kurskorrektur vornehmen.

Die wirklichen Bilateralen III verhandeln

Vage bleibt an diesem Abend, was die Alternative wäre. Ursprünglich wollte Gantner mit der Initiative eine «neue Richtung vorlegen», wie er letztes Jahr dem «Sonntags-Blick» sagte. «Man kann nicht immer nur Nein sagen.» Nun ist primär ein Volksbegehren daraus geworden, das ein Vertragspaket mit der EU verhindern will, indem dieses zwingend dem Ständemehr unterstellt wird.

Als Plan B verlangt Kompass «neue Verhandlungen auf Augenhöhe ohne dynamische Rechtsübernahme». Die Schweiz solle auf den präferenziellen Zugang zum Binnenmarkt verzichten. Wenn die unsägliche Diskussion über die institutionelle Anbindung vorbei sei, werde die EU auf die Schweiz zurückkommen, sagt Gantner. «Dann können wir die wirklichen Bilateralen III verhandeln.»

Die Europäische Union hat allerdings seit bald fünfzehn Jahren wiederholt klargemacht, welches ihre Bedingungen für eine Weiterführung der Bilateralen sind. Nur bei der Forschungszusammenarbeit steht fest, dass eine Teilnahme auch bei einer weniger engen Beziehung zur EU möglich wäre – wenn es diese politisch will. Doch gemäss Gantner hat Bern Trümpfe in der Hand. Ohne Schweizer Stromleitungen würden in Italien die Lichter ausgehen.

Gegen 21 Uhr naht das Ende des Abends. Nun ist ein geselliges Zusammensein auf dem Programm; Getränke stehen bereit. Gantner bittet die Leute, beim Unterschriftensammeln zu helfen. Während die Unterhändler in Brüssel noch über die letzten Dossiers verhandeln, ist in Winterthur die Gegenkampagne bereits in vollem Gang.

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