Samstag, November 23

Über Russland liegt der Bann des Ukraine-Krieges, wobei zu diesem nur patriotische Zustimmung geäussert werden darf. Wer abweichend denkt, muss aufpassen, nicht erwischt zu werden. Auch das Gedenken an die Opfer des Stalinismus gilt als dissident, es wird abgeschafft.

Eine allgemeine Gleichschaltung hat die Russen erfasst: Der Grossteil der Bevölkerung verhält sich nach den politischen Regeln, die ihr das Regime vorgibt. Manche setzen auf Mitmachen, andere möchten ihren Arbeitsplatz behalten, wieder andere schaffen es, sich mit einiger Anstrengung Putins Überzeugungen zu eigen zu machen, und einige teilen aufrichtig die kriegerische Stimmung und glauben, dass Russlands Feinde ausserhalb und innerhalb des Landes vernichtet werden müssen.

Man kann nie genau wissen, wer in der U-Bahn neben einem fährt, wer in einem überfüllten Restaurant am Nebentisch sitzt – in öffentlichen Verkehrsmitteln sollte man besser nicht auf seinem Smartphone oppositionelle Websites aufrufen und in einem Café mit leiser Stimme mit einem Freund oder einem Kollegen sprechen. Die Funktion «Nachrichten verschwinden lassen» ist die beliebteste Funktion in den Smartphone-Messengern der liberalen Intelligenzia geworden.

Wie zu Sowjetzeiten

So zu sein wie alle anderen – das Prinzip von Marcelo Clerici aus Bernardo Bertoluccis Spielfilm «Il conformista» –, wird in Russland zur Lebenskunst. Kein ausländischer Agent zu sein, kein offener Anhänger von LGBTQ oder der Bewegung der Kinderlosen zu sein (natürlich gibt es solche Bewegungen in Russland überhaupt nicht, aber die staatlichen Strafen sehr wohl), sich nicht den sogenannten «Quardrobern» anzuschliessen – einer Subkultur, die sich auf die Nachahmung von Tieren konzentriert und unter Jugendlichen schnell an Popularität gewinnt. Vor kurzem wusste niemand, wer sie sind, aber jetzt weiss jeder, dass sie unsere «traditionellen Werte» von innen heraus untergraben. Wir können über unsere Lage nachlesen (wer denn noch lesen will), zum Beispiel in Lion Feuchtwangers «Die Geschwister Oppermann» oder in Klaus Manns «Mephisto».

Im alten Wachtangow-Theater in Moskau, das wunderschön renoviert wurde und ein gutes Repertoire bietet, wird «Falsche Note», ein Stück des Franzosen Didier Caron, von brillanten Schauspielern aufgeführt. Die Inszenierung ist hervorragend und stammt vom Regisseur Rimas Tuminas. Nach der Aufführung spendet das Publikum in einem emotionalen Ausbruch Ovationen – schliesslich verfügt es über antifaschistisches Pathos.

Alles gut, wenn man nicht weiss, dass der Litauer Tuminas, der seit 2007 als künstlerischer Leiter des Theaters tätig war, im Mai 2022 wegen seiner Antikriegshaltung entlassen wurde. Zudem wurde ihm der Staatspreis im Bereich Kultur aberkannt. Er starb 2024. Unschön ist zudem, dass das Theater wahrscheinlich im Gegenzug für seine Finanzierung eine gewisse «spezielle Militäroperation» unterstützt. Ein Vermerk auf der Website vom Mai 2024: «Die vom Wachtangow-Theater für den Bedarf der Front entsandte Ausrüstung hilft mit, feindliche Stellungen zu identifizieren und punktuelle Artillerieangriffe durchzuführen.» Hendrik Höfgen, der Protagonist von «Mephisto», wäre neidisch, wenn ihm das jemand in Erfahrung brächte.

Das Marketing des Todes findet sich überall auf der Strasse. Kaum ein Geschäft hat den Mut, sich zu weigern, an seiner Tür eine Anzeige für den Vertrags- und Freiwilligendienst in der Armee aufzuhängen. Dafür bezahlt der Staat eine wachsende Geldsumme. Stammt er aus dem wohlhabenden Moskau, erhält der Abenteurer, wenn er überlebt, umgerechnet fast 54 000 Dollar für das erste Dienstjahr.

Unter den Bedingungen von Putins Biopolitik muss der Körper eines «Patrioten» vom Staat teuer erkauft werden. Dennoch nimmt der durchschnittliche Stadtbewohner die aufdringliche Werbung kaum wahr, genauso wie er vor vierzig Jahren an den sowjetischen Plakaten und Slogans, welche die Arbeiterklasse und die Kommunistische Partei verherrlichten, vorbeisah. Sie werden einfach zu einem vertrauten lokalen Objekt.

Obwohl es in der Propaganda einige interessante Neuheiten gibt, richtet sie sich eher an die Botschaften «unfreundlicher Staaten» als an das heimische Publikum. Unweit der finnischen Botschaft zum Beispiel gibt es eine Reihe von Ständen – mit Karten, Figuren und Hetztexten –, welche die Leute über die finnische Russophobie ins Bild setzen.

Nationalistisch und imperialistisch

Natürlich gab es so etwas unter der Sowjetherrschaft nicht, ebenso wenig wie eine offene Verherrlichung von Attentätern oder deren Anstiftern. Doch jetzt gibt es sie: Auf Ständern vor der estnischen Botschaft sind Porträts russischer «Helden» zu sehen, unter ihnen Pawel Sudoplatow, NKWD-General, Organisator und Exekutor von Attentaten, darunter dem auf den Revolutionsführer Leo Trotzki. Es wurde auch bekannt, dass Moskauer Strassen künftig nach «Helden» verschiedener Epochen benannt werden sollen, und auch Sudoplatow steht auf der Liste der für immer zu verewigenden Personen.

Die Schulen verstärken derweil die «patriotische Erziehung». Bislang sind wir noch nicht bei der «Schule der Barbaren» angekommen, wie sie in Erika Manns Buch 1938 beschrieben wurde. Vieles hängt jedoch von der jeweiligen Bildungseinrichtung, der Schulleitung und den Lehrern ab. Mit einiger Anstrengung können Kinder tatsächlich mit Putinismus indoktriniert werden, zumal Putin selber solcher Propaganda ab dem Kindergartenalter seinen Segen gegeben hat.

Viele Schüler indes achten entweder nicht auf den Inhalt der «Gespräche über wichtige Dinge», die montags in allen russischen Schulen als erste Lektion auf dem Stundenplan stehen, oder sie kultivieren ein doppeltes Bewusstsein: Wir passen uns zwar an, fühlen uns aber frei, selbst zu denken.

Genau dies war in meiner sowjetischen Kindheit die typische Situation in den Schulen und an der Universität, wo uns der «wissenschaftliche Kommunismus» verabreicht wurde. Heute wird den Schulkindern Geschichte anhand eines einzigen Lehrbuchs beigebracht, das klar und deutlich von der stark stalinisierten Sicht des Kremls geprägt ist. An der Universität lautet das Thema heute statt Wissenschaft des Kommunismus «Grundlagen der russischen Staatlichkeit». War der ideologische Kurs einst marxistisch, so ist er heute nationalistisch und imperialistisch.

Apropos Stalin. Im ganzen Land werden Gedenktafeln für die Opfer seines Terrors entfernt. Putin-Anhänger reissen «Letzte Adresse»-Tafeln herunter – es handelt sich dabei um eine von der Memorial-Stiftung angestossene Initiative zur Erinnerung an die konkreten Opfer der stalinistischen Repression. Die Tafel, die an das Schicksal meines Grossvaters gemahnte, ist verschwunden, weil das Haus abgerissen wurde. Stattdessen soll an dieser Stelle ein Hotel oder ein Einkaufszentrum entstehen.

Die Aktion «Rückkehr der Namen», bei der jedes Jahr vor dem Tag des Gedenkens an die Opfer politischer Repressionen die Namen der Verfolgten verlesen wurden (in Moskau geschah dies am Solowezki-Stein in der Lubjanka, wo einst der KGB residierte und heute der FSB untergebracht ist), wurde verboten – aus Gründen der Covid-Prävention. Die Aktion verlagerte sich ins Internet, doch in diesem Jahr sperrten die Behörden die Website. Sie wollen die gefolterten Toten erneut dem Vergessen anheimstellen, weil sie diese nicht zu Unrecht als direkte Vorgänger der heutigen Regimekritiker sehen. So ergibt es sich, dass die zu Stalins Zeiten Unterdrückten erneut unterdrückt wurden. Die Erinnerung an sie soll getilgt werden.

Randvoll mit Hass

Propaganda, Zensur und Selbstzensur laufen auf Hochtouren. Dmitri Lichatschow und Andrei Sacharow, beide Granden und Idole der Perestroika, wurden als moralische Autoritäten und Influencer ersetzt durch das Gesicht von General Andrei Gurulew, der im Fernsehen die physische Vernichtung aller Andersdenkenden fordert, sowie dem TV-Moderator Wladimir Solowjew, der randvoll mit Hass auf den Westen ist (aufgrund von dessen Sanktionen ist ihm seine Villa am Comersee abhandengekommen).

An die Stelle des Bibelwissenschafters und Übersetzers aus den alten Sprachen Sergei Awerinzew ist Metropolit Tichon (Schewkunow) getreten, Putins Beichtvater und Verfasser eines Propagandaschinkens, der in den Buchhandlungen aufliegt. Und die Stelle des humanistischen Philosophen Merab Mamardaschwili hat der Scharlatan und Verschwörungstheoretiker Alexander Dugin übernommen. Wo einst dicke Literaturzeitschriften in Millionenauflage nachgefragt wurden, beherrschen heute «Z»-Kanäle mit Millionen von Abonnenten das Feld.

Liberale, die sich nicht ins Ausland abgesetzt haben, nutzen weiterhin das von den Behörden gesperrte Youtube, indem sie VPN benutzen. Dieses Loch versuchen die Zensoren eifrig durch technische Aufrüstung zu stopfen. Youtube ist neben den sozialen Netzwerken und neben Telegram (das allerdings auch aktiv von kremlnahen Kanälen genutzt wird) zum wichtigsten Medium für die Verbreitung alternativer Informationen und Meinungen aus dem Ausland, aber auch aus dem Inneren Russlands geworden.

Es gibt noch einige wenige Journalisten, die weiterhin in Russland ausharren und aus Russland schreiben und senden – ich selber bin einer von ihnen. Ich beobachte die Dinge von innen, indem ich bei der halb verbotenen «Nowaja Gaseta» arbeite, für deren Integrität ihr Gründer, der Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow, steht. Noch immer leitet er die Redaktionssitzungen, verteilt Ideen und Aufgaben.

Die Arbeit wird immer schwieriger, aber wichtig für die Welt sind die Informationen, die direkt aus Russland kommen, de profundis, aus dem Verborgenen. Wieder versammeln sich, wie zu Sowjetzeiten, Zirkel von Intellektuellen in der Küche. Sie trinken auf den Frieden. Und «auf unsere und eure Freiheit», wie es mehrere Generationen von denkenden Russen getan haben.

Und die Menschen tragen Blumen zum Borisow-Friedhof, wo sich das Grab von Alexei Nawalny befindet, der zur Verkörperung einer Alternative zum Putinismus geworden ist. In der Nähe steht ein Wagen der Rosgwardija, einer staatlichen Einheit zur Unterdrückung des freien Denkens im Lande, bereit. Man weiss ja nie, wie es kommt.

Andrei Kolesnikow ist Journalist, politischer Kommentator und Buchautor (so hat er eine Biografie des Reformers Jegor Gaidar verfasst). Er lebt in Moskau und schreibt unter anderem für die Online-Zeitung «Nowaja Gaseta». – Aus dem Englischen von A. Bn.

Exit mobile version