Dienstag, November 19

Josep Borrell tritt voraussichtlich in wenigen Tagen ab. Wollte er sich ein Vermächtnis setzen? Die Liste der EU-Staaten, die Israel stützen, ist weiterhin lang – doch sie erodiert zusehends.

Es gibt nicht viele Arbeitnehmer, die zwei Wochen vor dem geplanten Übertritt in die Rente noch nicht wissen, ob sie diese auch wirklich antreten können. Josep Borrell, Aussenbeauftragter und damit Chefdiplomat der EU, gehört zu jener seltenen Spezies. Weil die neue Kommission vom Parlament noch immer nicht bestätigt ist, bleibt vorerst offen, ob Borrell sein Amt noch bis Ende November, Ende Dezember oder allenfalls gar noch länger ausüben darf.

Wenn alles nach Plan läuft, leitete der 77-Jährige am Montag aber sein letztes Treffen der EU-Aussenminister. Dass er ausgerechnet dann eine der explosiveren – und eigenwilligeren, weil kaum sondierten – Forderungen seiner fünfjährigen Amtszeit auf den Tisch brachte, dürfte also nicht dem Zufall geschuldet sein. Borrell verlangte angesichts der dramatischen Situation im Gazastreifen, den politischen Dialog mit Israel vorübergehend auszusetzen.

Das Assoziierungsabkommen wurde Mitte der 1990er Jahre ausgehandelt und ist im Juni 2000 in Kraft getreten. Diplomatische Beziehungen laufen weiter, von einem regelmässigen Dialog zur Stärkung der Beziehungen, wie es der Vertrag vorsieht, kann allerdings schon seit längerem keine Rede mehr sein. Aus Protest gegen einen Entscheid der EU, bei der Umsetzung des Abkommens zwischen dem israelischen Kernland und den Siedlungen im Westjordanland zu unterscheiden, setzte Israel die jährlichen Gespräche 2013 aus. 2022 wurde auf Bestreben der EU dann wieder eine Tagung abgehalten, doch mit Beginn des Gaza-Krieges ist dieser Kanal abermals eingefroren – gemäss EU-Kreisen erneut aufgrund der israelischen Weigerung. Ein formelles Aussetzen des politischen Dialogs seitens der EU wäre also vor allem ein symbolischer Schritt gewesen.

Sie werden keine Freunde mehr

Aus dem Nichts kam Borrells Vorschlag nicht: Je länger der Gaza-Krieg andauert, desto schärfer ist sein Tonfall gegenüber dem jüdischen Staat geworden. Er bezichtigt Israel, bei seiner Kriegsführung das humanitäre Völkerrecht und die Menschenrechte nicht einzuhalten. Am Montagmorgen sagte er vor den Kameras, dass er «keine Worte mehr» dafür habe, was im Nahen Osten vor sich gehe. Israel seinerseits hat längst mit dem Chefdiplomaten gebrochen: Der frühere Aussenminister Israel Katz bezeichnete ihn im Sommer als «Antisemit und Israel-Hasser» und erklärte ihn zur Persona non grata.

Falls sich Borrell an seiner letzten Sitzung ein Vermächtnis hat setzen wollen, ist der Schuss jedenfalls nach hinten losgegangen. Die EU setzt den politischen Dialog bis auf weiteres nicht aus, wie am Montagabend klarwurde. Für Beschlüsse in der Aussenpolitik ist die Einstimmigkeit aller 27 Mitgliedsstaaten notwendig – und diese ist bei weitem nicht in Sicht.

Spanien und Irland sind am kritischsten

Wie die NZZ aus gut informierten Kreisen erfahren hat, stellte sich lediglich eine Handvoll Länder voll und ganz hinter Borrells Forderung. Wenig erstaunlich waren dies Spanien und Irland, die im Mai gar Palästina als eigenständigen Staat anerkannt haben, plus zusätzlich Belgien, Portugal und Slowenien. Gegen einen Abbruch des politischen Dialogs haben sich Deutschland, Österreich, Italien, die Niederlande, Tschechien, Ungarn, Bulgarien und Rumänien gestellt. Abgestimmt hat man am Aussenministertreffen nicht, die Stimmung sei nicht konfrontativ gewesen.

Dass eine ganze Reihe von Staaten den Eklat mit Israel verhindern wollen, zeigte sich bereits am Montagmorgen. Am deutlichsten sagte es der niederländische Aussenminister Caspar Veldkamp: «Wir sollten die Türe offenlassen.» Israel habe einen neuen Aussenminister, die EU bald einen neuen Aussenbeauftragten – da müsse man die Möglichkeiten zum Dialog offenhalten, was bis anhin ja stets auch die Linie von Borrell gewesen sei. Warum dieser nun eine «180-Grad-Wendung» vollziehe, wisse er auch nicht.

«Es gibt keine Ausreden»

Allerdings zeigt sich, dass auch jene Staaten, die den Dialog mit Israel aufrechterhalten wollen, durchaus kritische Worte finden – gerade auch Länder, die nach der Terrorattacke vom 7. Oktober 2023 noch bedingungslos hinter Israel gestanden hatten. Das Leid der Menschen, vor allem der Kinder, sei «nicht mehr in Worte zu fassen», sagte etwa Deutschlands Aussenministerin Annalena Baerbock. Es gebe «keine Ausreden» dafür, dass humanitäre Hilfe nicht nach Gaza kommen könne.

Sie betonte, dass es auch für Selbstverteidigung Grenzen gebe. Eine israelische Besiedlung des Gazastreifens dürfe es nicht geben, sagte sie – und liess für die bilateralen Beziehungen ganz bewusst alle Optionen offen: «Wenn von einzelnen Ministern jetzt das Existenzrecht von Palästinensern oder das Völkerrecht infrage gestellt wird, hat das natürlich auch mit Blick auf die europäische Positionierung Konsequenzen.»

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