Beatrix Borchard stellt die Lebenswege von Fanny und Felix Mendelssohn in einer Montage nebeneinander. Sie macht deutlich, wie sehr die Rollenbilder der Epoche eine Karriere Fannys als Musikerin beeinträchtigt haben.

Es war eine aussergewöhnliche Familie, und es war ein aussergewöhnliches Geschwisterpaar: die seit 1811 in Berlin ansässige Bankiersfamilie Mendelssohn und die musikalisch begabtesten zwei ihrer vier Kinder. Felix (1809–1847) war schon zu Lebzeiten eine Berühmtheit, seine vier Jahre ältere Schwester Fanny (1805–1847) musste sich dagegen als Komponistin mit dem Zuspruch eines Kennerpublikums begnügen und wurde erst im Zuge der Frauenbewegung wiederentdeckt.

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Hatte sie weniger Talent als ihr Bruder? Man wird es nie erfahren, denn sie bekam nie die gleichen Chancen wie Felix. Was dies für ihre Entwicklung als Musikerin bedeutete, erkundet Beatrix Borchard in einer neuen «biographischen Montage», welche die Lebenswege der Geschwister chronologisch in Parallele setzt. Das Material dazu liefern Briefe, Tagebucheintragungen, Erinnerungen von Familienmitgliedern und Zeitgenossen, aber auch Verträge und Gesetzestexte. In Borchards Zusammenstellung bedürfen sie keiner Kommentierung, sie sprechen für sich.

Künstlerische Symbiose

Während der Jugendzeit leben Fanny und Felix in einer künstlerischen Symbiose, sie musizieren vierhändig und komponieren gemeinsam, werden von den besten Lehrkräften ihrer Zeit unterrichtet, in Paris von der Beethoven-Schülerin Marie Bigot, in Berlin von Carl Friedrich Zelter. Felix legt jedes seiner Werke der Schwester zur Korrektur vor, aber auch sie bedarf seiner Gegenwart, damit es ihr mit der Musik «rutsche». Die Mutter allerdings etabliert früh eine Rangordnung zwischen den Geschwistern. Als Wunderkind gilt nur Felix. Von Fanny schreibt sie: «Wenn sie nicht das neidloseste Geschöpf wäre und ihren Bruder so adorirte, müsste sie ihm fast gram werden; denn er verdunkelt ihr recht hübsches Talent zum Spielen und Komponiren mehr als billig.» Hier Genie, dort «hübsches Talent»!

So verläuft die Entwicklung der beiden trotz ihrer engen Verbundenheit bald unterschiedlich. 1818 tritt der neunjährige Felix erstmals öffentlich auf, Fanny begnügt sich mit Auftritten in privatem Rahmen, bevor sie zwanzig Jahre später das g-Moll-Klavierkonzert des Bruders in einem Benefizkonzert öffentlich spielt. Felix reist 1821 mit Zelter zu Goethe nach Weimar, Fanny bleibt zu Hause – immerhin werden dem Dichter Lieder von ihr vorgespielt. 1822 vollenden Felix und Fanny je ein erstes Klavierquartett, jenes von Felix wird durch den Vater veröffentlicht, das von Fanny nicht. Felix bekommt Geigenunterricht, Fanny erlernt weder ein Streichinstrument, noch wird sie in der Kunst der Instrumentierung unterwiesen.

Die Erklärung für die ungleiche Behandlung steht in einem Brief des Vaters an die fünfzehnjährige Fanny: «Die Musik wird für ihn (Felix) vielleicht Beruf, während sie für Dich stets nur Zierde, niemals Grundbass Deines Seins und Tuns werden kann und soll.» Ehrgeiz und Geltungsdrang seien Felix daher nachzusehen, Fannys selbstlose Freude am Erfolg des Bruders lobt er als weibliche Eigenschaften – «und nur das Weibliche ziert die Frauen». Wie nebenbei gesteht er ihr zu, dass sie «an seiner Stelle», das heisst als Mann, sich diesen Erfolg auch verdienen könnte.

Profession oder Zierde?

1825 fährt der Vater mit dem sechzehnjährigen Felix nach Paris, um dessen Begabung vom berühmten Luigi Cherubini begutachten zu lassen. Danach steht fest, dass die Musik für Felix zum Beruf wird. Für Fanny dagegen sieht der Vater als eigentlichen Beruf den der Hausfrau vor. Das Jahr 1825 eröffnet aber auch ihr neue Perspektiven. Der Erwerb eines grossen Anwesens mit Gartenhaus an der Leipziger Strasse 3 ermöglicht es den Mendelssohns, Konzerte für bis zu zweihundert Besucher zu veranstalten. Dies wird bis zu Fannys Tod ihr wichtigstes Wirkungsfeld bleiben, nach ihren eigenen Worten «ein wunderliches Mittelding zwischen Privat- und öffentlichem Wesen».

Bei diesen «Sonntagsmusiken» trifft sich alles, was in Musik, Kunst, Wissenschaft und Literatur Rang und Namen hat, die Elite der Berliner Gesellschaft wie auch durchreisende Prominenz. Viele der Kompositionen von Felix und Fanny erleben hier ihre ersten Aufführungen. Ein zweites zentrales Wirkungsfeld ist für die Geschwister seit 1820 die Berliner Singakademie, Schauplatz der epochalen Wiederaufführung von Bachs Matthäus-Passion. Da unterstützt Fanny den Bruder bei der Choreinstudierung. Während Jahren wirkt sie in der Singakademie nicht nur als Sängerin und Pianistin mit, sondern auch als Dirigentin und Organisatorin.

Das Jahr der Wiederaufführung der Matthäus-Passion, 1829, wird zu einem Wendepunkt in beider Leben. Felix beginnt in England seine internationale Karriere als Dirigent, die ihn später an das Leipziger Gewandhaus und als Generalmusikdirektor zurück nach Berlin führen wird. Fanny vermählt sich mit dem Kunstmaler Wilhelm Hensel, der in den Bund der Geschwister aufgenommen wird und mit diesen eine «selige Dreieinigkeit» gebildet habe. Hensel schätzt und fördert Fannys musikalisches Schaffen. Die wohl glücklichste Zeit erlebt sie mit ihm und dem Sohn Sebastian 1839/40 in Rom. Da wird ihr zuteil, was sie vorher und später so schmerzlich vermisst: künstlerischer Austausch, Anregung, Anerkennung, Inspiration – alles, was für den «Weltmann» Felix selbstverständlich ist. Besonders wichtig wird für Fanny die Beziehung zu Charles Gounod, der sie «als Komponistin von seltener Begabung» schätzt. Später freundet sie sich mit Clara Schumann an, die als gefeierte Pianistin im Rampenlicht der Öffentlichkeit steht und auch mit Felix auftritt.

Jähes Ende

Die Mendelssohns waren eine von Glück begünstigte Familie, zu deren Harmonie auch die Ehefrau von Felix beitrug. Einen Schatten warfen allerdings antisemitische Anfeindungen, die sie trotz Taufe und christlicher Erziehung erfuhren. Der schwerste Schicksalsschlag war Fannys früher Tod. Kurz zuvor hatte sie sich entschlossen, ihre Werke zu veröffentlichen, mit Zustimmung ihres Mannes, doch gegen den Willen von Felix. Dieser liess es zwar nicht an Anerkennung für ihre Kompositionen fehlen, insbesondere ihre Lieder hielt er «für die schönste Musik, die jetzt ein Mensch auf der Erde machen kann»; gleichwohl fand er, man solle nur publizieren, «wenn man als Autor sein Lebenlang auftreten und dastehn will», und dazu habe Fanny, wie er sie kenne, «weder Lust noch Beruf».

Nachdem sie ihm ihren Entschluss mitgeteilt hatte, gab er ihr erst nach langem, kränkendem Schweigen seinen «Handwerks-Segen». Am 14. Mai 1847 versagten Fanny während einer Probe zu Felix’ Goethe-Kantate «Die erste Walpurgisnacht» die Hände, noch am selben Tag erlag sie einem Schlaganfall. Hensel war ein gebrochener Mann, Felix verzehrte sich in bitterer Reue, dass er nicht mehr für die Schwester getan hatte. Er starb wenige Monate später nach einem Erholungsaufenthalt in der Schweiz, ebenfalls an den Folgen eines Schlaganfalls. Selbst die Todesart war den zwei Unzertrennlichen gemeinsam.

Beatrix Borchard: Fanny und Felix Mendelssohn. Zwei Wege. Eine biographische Montage. Olms-Presse, Hildesheim 2025. 344 S., € 24.80.

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