Donnerstag, Mai 8

Mit den Angriffen auf «Terrorcamps» reagiert Indien auf den blutigen Anschlag auf Touristen in Kaschmir. Sein Nachbar schlägt in der umstrittenen Himalaja-Region mit Artillerie zurück. Nun ist dringend Deeskalation zwischen den Atommächten gefragt.

Zwei Wochen nach dem Terroranschlag auf Touristen in Kaschmir hat Indien zum Vergeltungsschlag gegen Pakistan ausgeholt. Indische Kampfjets flogen in der Nacht zu Mittwoch Angriffe auf neun Ziele in Pakistan. Die «fokussierten, begrenzten und nicht-eskalierenden Angriffe» hätten sich gegen «terroristische Infrastruktur» gerichtet, teilte das Verteidigungsministerium in Delhi mit. Pakistanische Militäreinrichtungen seien nicht attackiert worden. Die Armee erklärte, mit dem Angriff sei für Gerechtigkeit gesorgt.

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Bei dem Terroranschlag vom 22. April hatten drei oder vier Angreifer auf einer idyllischen Bergwiese in Kaschmir 25 Touristen und einen einheimischen Bergführer getötet. Es war der schwerste Angriff auf Touristen in Kaschmir seit Beginn des Aufstands in der Himalajaregion 1989. Indien machte die islamistische Terrorgruppe Lashkar-e Toiba für das Massaker verantwortlich und warf Pakistans Geheimdienst vor, den Terrorakt in Auftrag gegeben zu haben.

Pakistans Militär reagierte auf die Luftangriffe in der Nacht zu Mittwoch mit Artilleriebeschuss entlang der sogenannten Line of Control. Entlang dieser Waffenstillstandslinie, welche den pakistanischen und den indisch kontrollierten Teil Kaschmirs trennt, war es seit dem Angriff vom 22. April wiederholt zu Schusswechseln gekommen. Bei den pakistanischen Artillerieangriffen wurden in Indien nun mindestens drei Zivilisten getötet, wie die indische Armee mitteilte.

Indien greift auch ein Ziel im pakistanischen Kernland an

Auf pakistanischer Seite wurden acht Tote und 35 Verletzte gemeldet. Pakistans Verteidigungsminister Khwaja Asif sagte, die indischen Angriffe hätten sich gegen Moscheen und andere zivile Ziele gerichtet. Dabei seien Frauen und Kinder getötet worden. Die meisten Luftangriffe trafen Ziele im pakistanischen Teil Kaschmirs, den Indien für sich beansprucht. Ein Angriff richtete sich aber gegen eine Moschee in Bahwalpur in der Provinz Punjab. Dass Indien auch ein Ziel im pakistanischen Kernland angreift, stellt eine Eskalation dar.

Pakistans Informationsminister Attaullah Tarar behauptete, Pakistan habe fünf indische Kampfjets abgeschossen – drei Rafale aus französischer Produktion und zwei russische Kampfjets vom Typ Su-30 und MIG-29. Indien äusserte sich zunächst nicht dazu. Während der Balakot-Krise im Februar 2019 hatte Pakistan bei einem Luftkampf ein indisches Kampfflugzeug abgeschossen und dessen Piloten gefangen genommen. Erst nach amerikanischer Vermittlung kam er wieder frei.

Indien hatte damals nach einem Selbstmordanschlag auf einen Polizeikonvoi in Kaschmir ebenfalls Luftangriffe in Pakistan geflogen. Bei dem Angriff in Pulwama waren mehr als 40 Polizisten getötet worden. Der Gegenschlag richtete sich gegen ein Lager der islamistischen Terrorgruppe Jaish-e Mohammed in Balakot, verfehlte aber offenbar sein Ziel. Daraufhin griff Pakistan seinerseits Ziele in Indien an, wobei der Kampfjet abgeschossen wurde.

Der Militärschlag war in Indien lange erwartet worden

Unter internationalem Druck konnte damals eine grössere Eskalation zwischen den verfeindeten Nuklearmächten vermieden werden. Mit der militärischen Reaktion auf den Anschlag hatte der indische Premierminister Narendra Modi aber einen Standard etabliert, hinter den er nur noch schwer zurück konnte. Nach dem Anschlag auf die Touristen in Kaschmir war daher rasch klar, dass Modi auch in diesem Fall einen Militärschlag anordnen würde.

Die indischen Luftangriffe trafen nun unter anderem die Hauptstadt des pakistanischen Teils von Kaschmir, Muzzafarabad, sowie Bahwalpur in der Provinz Punjab und Muridke in der Nähe der Grossstadt Lahore. Dort hat die islamistische Missionsbewegung Jamaat-ud Dawa ihre Zentrale. Sie gilt als Frontorganisation von Lashkar-e Toiba. In Bahwalpur befindet sich ein religiöses Seminar, das mit der islamistischen Terrorgruppe Jaish-e Mohammed verbunden sein soll.

Pakistans Verteidigungsminister Asif sagte, die indischen Kampfjets hätten die Angriffe aus dem indischen Luftraum gestartet. Indien werde umgehend «eine angemessene Antwort» erhalten. Beide Länder setzten den zivilen Flugverkehr in der Region aus. Auch die Schulen blieben in der Grenzregion geschlossen. Indiens Regierung hatte bereits zuvor für Mittwoch eine grosse landesweite Zivilschutzübung angesetzt, um die Bevölkerung auf Angriffe vorzubereiten.

Die indische Regierung gratuliert der Armee zum Erfolg

Die Wortmeldungen auf indischer Seite deuteten darauf hin, dass es die Regierung bei den Angriffen belassen will. So gratulierte der indische Verteidigungsminister Rajnath Singh der Armee für den «erfolgreichen Einsatz» bei der «Operation Sindoor». Sindoor ist ein rotes Pulver, das in Indien verheiratete Hindu-Frauen am Haaransatz auftragen, um ihren Status zu zeigen. Die Wahl dieser Bezeichnung für den Militäreinsatz ist wohl ein Verweis darauf, dass bei dem Terroranschlag in Kaschmir viele Ehefrauen zu Witwen geworden sind.

Bei dem Angriff in der Nähe des beliebten Ferienorts Pahalgam töteten die Terroristen nur Männer. Laut Medienberichten fragten die Angreifer ihre Opfer nach ihrer Religion und ermordeten dann gezielt die Hindus. Dieser offen religiöse Charakter des Anschlags hat in Indien grosse Empörung ausgelöst, aber auch in der mehrheitlich muslimischen Bevölkerung in Kaschmir für Abscheu und Entsetzen gesorgt. Nach dem Anschlag gab es dort spontane Protestaktionen.

Die harsche indische Reaktion auf den Anschlag hat aber in Kaschmir für Unmut gesorgt. Lokale Politiker beklagten, die Sicherheitskräfte habe mehr als tausend Verdächtige zur Befragung festgenommen. Sie mahnten, mit diesen grossflächigen Razzien drohe die Armee das Wohlwollen der Kaschmiri zu verspielen. Für Ärger in der Region sorgte auch, dass die Sicherheitskräfte offenbar zur Abschreckung die Häuser der Familien von zehn Terrorverdächtigen sprengten.

Ein klarer Beweis für Pakistans Schuld steht weiter aus

Die Angreifer sind derweil weiter auf der Flucht. Laut indischen Angaben handelt es sich um einen Kaschmiri und zwei Pakistaner. Pakistan bestreitet jede Verwicklung in den Anschlag und hat eine internationale Untersuchung des Anschlags angeboten. Die Regierung in Islamabad beklagt, dass Delhi keine Beweise dafür vorgelegt habe, dass Pakistan hinter dem Anschlag stecke. Tatsächlich fehlt bis heute ein klarer Beleg für eine Verbindung der Täter zum pakistanischen Geheimdienst.

Nach dem Anschlag hat Indien eine Reihe politischer Massnahmen gegen Pakistan ergriffen. So schloss es die Grenze zu seinem Nachbarn, wies mehrere Diplomaten aus und forderte alle pakistanischen Staatsbürger mit Ausnahme der Inhaber von Langzeitvisa auf, das Land zu verlassen. Islamabad reagierte mit ähnlichen Massnahmen. Die einschneidendste Folge des Anschlags war jedoch, dass Delhi das Indus-Abkommen aussetzte, dass die Aufteilung des Flusses regelt.

Es ist das erste Mal, dass Indien zu dieser Massnahme greift. Das von der Weltbank vermittelte Abkommen von 1960 hatte bisher alle vier Kriege zwischen den Nachbarn überlebt. Der Indus ist die Lebensader Pakistans, und jede Beschneidung der Wassermenge hätte gravierende Folgen für die pakistanische Bevölkerung. Islamabad warnte denn auch, sollte Indien in den Flusslauf eingreifen, würde es dies als «Akt des Krieges» betrachten. Vorläufig fehlt Indien aber die technische Infrastruktur, um den Fluss umzuleiten oder aufzustauen.

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