Dienstag, April 29

Moskaus Übermacht setzt die Verteidiger immer stärker unter Druck. Die Russen sind in der besten Position seit langem. Doch auch sie befinden sich in einem Rennen gegen die Zeit.

Während die USA schnellstmöglich Waffen und Munition in Richtung Kiew transportieren, wird die Lage an der Front für die Verteidiger immer schwieriger. Der Oberkommandierende der ukrainischen Armee, Olexander Sirski, sagte am Sonntag, dass die Russen in mehreren Abschnitten einen «erheblichen Vorteil an Kräften und Mitteln» hätten. Gleichzeitig versucht Moskau, mit Angriffen auf Bahnhöfe und das Stromnetz die Versorgung und die Kommunikation der gegnerischen Truppen zu stören.

Die heftigsten Schlachten toben im Donbass um die strategisch bedeutsamen Kleinstädte Tschasiw Jar und Krasnohoriwka. Diese markieren den nördlichen und den südlichen Eckpunkt des am stärksten umkämpften Teils der ukrainisch kontrollierten Region Donezk. Auf halbem Weg dazwischen liegt die im Februar gefallene Stadt Awdijiwka. Dort rücken die Russen seither stetig nach Westen vor – bis anhin fast zwanzig Kilometer.

Rascher Fall der Bastion Otscheretine

Den Ukrainern gelingt es nicht, die Front zu stabilisieren, und in der vergangenen Woche hat sich die Offensive stark beschleunigt. Besonders folgenreich ist der Durchbruch im strategisch bedeutenden Otscheretine, wo sich zwei Verteidigungslinien kreuzten. Die Ukrainer hatten gehofft, die Ortschaft einige Wochen lang zu halten. Nun droht ihnen ein erneuter Rückzug um etwa ein Dutzend Kilometer.

Der rasche Fall des stark befestigten Otscheretine zeigt die heikle Lage der Ukrainer. Laut übereinstimmenden Berichten sollte die dort kämpfende, mit westlichen Waffen ausgerüstete 47. Mechanisierte Brigade nach fast einem Jahr zur Erholung abgezogen werden. Doch bei der Rotation kam es zu einer Verzögerung, die Positionen blieben vorübergehend leer. Russische Drohnen entdeckten die Lücke, die Armee nutzte dies für einen raschen Vorstoss über etwa acht Kilometer aus.

In der Ukraine ist ein heftiger Streit entbrannt, ob die Armeeführung, Befehle verweigernde Einheiten oder die schlechte Ausrüstung der Ersatzbrigade für den folgenreichen Fehler verantwortlich ist. Während Kiew Verstärkung heranschafft und Gegenangriffe startet, verbreitert Moskau den schmalen Korridor bei Otscheretine stetig. Laut dem ukrainischen Centre for Defence Strategies stehen den 10 000 Russen dort nur etwa 3000 Ukrainer an den Flanken entgegen.

Die Übermacht spiegelt die Situation in der Region Donezk: Russland hat hier laut dem Analysedienst Rochan Consulting 114 Militäreinheiten stationiert, die Ukrainer lediglich 59. Anfang September hatte noch Parität geherrscht. Die zahlenmässige Überlegenheit ermöglicht es Moskau, die gegnerischen Verteidigungspositionen nach Schwachstellen abzutasten und dann rasch zuzuschlagen – wie in Otscheretine.

Russen verlieren bei Krasnohoriwka viele Panzerfahrzeuge

Die gleiche Strategie wendet Russland auch in Tschasiw Jar an, dort bis jetzt mit weniger Erfolg. «Der Feind identifiziert enge Durchbruchsgebiete, wo er versucht, einen maximalen Vorteil an Aufklärung und Feuerkraft zu schaffen», beschreibt der ukrainische Militärjournalist Juri Butusow das Vorgehen. Russland sorge «für einen ständigen Nachschub an Infanterie». So werden Tausende von Soldaten verheizt. Doch die Russen fügen in Kombination mit Flugzeugbomben und Artillerie auch den Ukrainern enorme Verluste zu.

In Krasnohoriwka wiederum, am südlichen Ende des heissesten Frontabschnitts, haben die Angreifer schon mehrere Vorstösse mit mechanisierten Kolonnen versucht und dabei Dutzende von Fahrzeugen verloren. Die Ukrainer kompensieren dort ihren Mangel an Artillerie und Panzerabwehrwaffen durch den Einsatz von Kamikaze-Drohnen.

Als Reaktion darauf setzen die Russen neuartige Gefährte an die Spitze ihrer Kolonnen, die Kommentatoren im Internet als «Schildkrötenpanzer» bezeichnen. Solche umgebaute T-72-Panzer verfügen über eine zusätzliche Metallabdeckung und Gitter sowie elektronische Instrumente gegen Drohnen. Mindestens einer kämpfte sich erfolgreich durch Minenfelder und Drohnenschwärme.

Dass jüngst auch Gleitbomben und Helikopter die Angriffe begleiteten, sehen manche Beobachter als möglichen Auftakt für noch brutalere Versuche, Krasnohoriwka zu stürmen. Die Ukrainer haben sich im Industriegebiet der Stadt verschanzt und reagieren ihrerseits mit Luftangriffen. Dennoch haben die Kämpfe das Ortszentrum erreicht.

Russland will das Momentum für Gebietsgewinne nutzen

Alle drei Orte haben grosse Bedeutung für weitere potenzielle Vorstösse des Aggressors. Von Otscheretine aus könnten russische Truppen im schlimmsten Fall einen Keil in die ukrainische Donbass-Front treiben und diese zweiteilen. Tschasiw Jar liegt auf einer Anhöhe und schützt Kramatorsk, die Hauptstadt der ukrainisch kontrollierten Region Donezk. Aus Krasnohoriwka würde ein Vormarsch auf die strategisch wichtige Stadt Kurachowe möglich. Fällt sie, würden die Ukrainer unter Umständen zum Rückzug aus dem Südteil des Donbass gezwungen.

Putin hat alles Interesse, das Momentum auszunutzen: Er verfügt über Reserven und will bis zum 9. Mai, dem «Tag des Sieges» im Zweiten Weltkrieg, weitere symbolträchtige Erfolge feiern. Zudem weiss er, dass die deblockierte Waffenhilfe aus den USA zwar nicht alle Probleme der Ukrainer löst, die akute Knappheit der Ukraine bei der Artillerie, der Luftverteidigung und den Panzerabwehrwaffen aber lindert.

Dies wird die Verluste unter den Russen noch stärker in die Höhe treiben. Dabei bleibt selbst das Minimalziel im Krieg, die Eroberung des Donbass, weit entfernt: Die Distanz von Otscheretine bis an die Grenze der Region Donezk beträgt 60 Kilometer Luftlinie, das Dreifache des in über zwei Jahren eroberten Gebietes.

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