Mittwoch, Oktober 9

Mariann Bühler verschränkt in ihrem Debütroman drei Biografien, die eines gemeinsam haben: Sie möchten aus ihrer Haut fahren. Sie ist für den Schweizer Buchpreis nominiert worden.

Gelegentlich möchte Elisabeth weggehen. Weggehen aus einem Leben, das sie nicht gewählt und das sie sich anders vorgestellt hatte. Die Tochter war früh ausgezogen, den Mann liebte und fürchtete sie zugleich, weil er zu Trübsinn und auch zu Handgreiflichkeiten neigte. Und dann war er plötzlich tot und sie allein in einem Leben, das nicht ihres war, das sie erst zu ihrem machen musste. Dennoch blieben die Gedanken ans Weggehen.

Elisabeth ist eine von drei Hauptfiguren in Mariann Bühlers Debütroman «Verschiebung im Gestein», der für den Schweizer Buchpreis nominiert ist. Nach dem Tod ihres Mannes hat sie die Bäckerei nicht aufgegeben, sie hat selber backen gelernt und führt das Geschäft weiter, sogar mit Erfolg. Ist sie glücklich? Sie denkt nicht in diesen Kategorien. Aber sie hat ihr Leben in die Hand genommen.

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Mariann Bühler verschränkt in ihrem Roman drei Biografien, die manches gemeinsam haben: Alle drei stehen an einem Wendepunkt in ihrem Leben. Sie merken, dass sie in ein Leben gerutscht sind, für das sie sich nicht entschieden haben. Dieses Leben hat sie gezeichnet, sie haben Verwundungen davongetragen, physische und seelische. Die Wege der drei Menschen kreuzen sich in einem kleinen, ländlichen Raum, ohne dass sie unmittelbar miteinander verbunden sind.

Der Bauer Alois hat den Hof von seinen Eltern übernommen. Es war keine Entscheidung, es geschah einfach, als wäre es ein Naturgesetz. Der Sohn bleibt und führt das Werk des Vaters fort, so wie Elisabeth nach dem Tod ihres Mannes sich aufrafft und – nach einer Zeit der bleiernen Trauer – in die Backstube geht und weitermacht, wo der Mann aufgehört hatte.

Mariann Bühler erzählt ihre Biografien abwechselnd in kurzen Stücken, indem sie in der Zeit rückwärts- und dann wieder vorangeht. So entstehen aus wenigen Fragmenten eindringliche Lebensbilder von Menschen, die nicht da sind, wo sie sein möchten, und die auch nicht sind, was sie sein könnten. Allerdings wüssten sie nicht zu sagen, was denn anders sein sollte. Sie ahnen nur, dass sie nicht in ihrer Haut sind, seit Kindheitstagen vielleicht nicht.

Das klingt nach einem schwermütigen Stoff, aber die Autorin nimmt ihm alles Schwere. Sie zeichnet Figuren von grosser Zartheit und Empfindsamkeit, die zugleich einen enormen Lebenswillen und viel Widerstandskraft offenbaren. Geht es in diesen Geschichten auch um versäumte Chancen, so bleiben sie dennoch nicht ganz ohne Hoffnung.

Weitergehen

Alois zum Beispiel überlässt den Hof für ein Jahr einem Ehepaar, packt seinen Rucksack und geht weg. Ohne Plan oder jedenfalls ohne erkennbaren Plan. Es zieht ihn zu einem anderen Bauern, der ein Freund sein könnte. Wiederum erweist sich die Souveränität dieses Textes darin, dass die Autorin alles im Offenen lässt. Daran gibt es auch nichts Gekünsteltes, denn die Figuren wissen selber nicht, wonach sie suchen.

Das gilt auch für den dritten Erzählstrang in diesem Roman. Er ist in der Du-Form geschrieben. Als würde jemand im Selbstgespräch verharren, ganz nach innen gekehrt und im inneren Monolog festgefahren. Damit wird das Motiv des Gefangenseins im eigenen Leben noch einmal auf ganz andere Weise dargestellt. Diese Erzählstimme begibt sich auf eine Reise in die Vergangenheit, sie sucht ein seit langen Jahren vernachlässigtes Ferienhaus der Familie auf. Es ist ein Zwischenschritt, danach bricht sie aus wie zuvor der Bauer Alois.

Mariann Bühler erzählt diese Geschichten vom Weggehen ganz schlicht und sehr direkt. Deren schönste Pointe liegt darin, dass man auch weggehen kann, indem man wie Elisabeth bleibt, wo man ist. Sie entdeckt im alten Leben ein neues.

Mariann Bühler: Verschiebung im Gestein. Roman. Atlantis-Verlag, Zürich 2024. 206 S., Fr. 31.90.

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