Donnerstag, Januar 16

Schweiz gegen Deutschland – bei dieser Affiche hofft der Schweizer Sportfan hämisch auf eine Sensation. Am Freitagabend spielen die Schweizer Handballer an der WM in Dänemark gegen den favorisierten Erzrivalen.

Der deutsche Nationaltrainer Alfred Gislason erzählte der «Süddeutschen Zeitung» wenige Tage vor der Handball-Weltmeisterschaft, er habe sich noch nicht allzu viele Gedanken über die Gegner in der Vorrunde gemacht: «Wir haben uns im Training mehr um uns selbst gekümmert», sagte Gislason. Zu Deutschlands Gegnern gehört nebst Polen und Tschechien auch die Schweiz. Gislason, 65 Jahre alt, ist Isländer. Er arbeitet aber schon seit fast 30 Jahren in Deutschland.

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Hat Gislason in dieser Zeit angesichts seiner Aussage die in der Schweiz gemeinhin kolportierte «deutsche Arroganz» verinnerlicht? Gislason hat es offenbar nicht nötig, sich mit dem Nationalteam des südlichen Nachbarn zu beschäftigen. Doch insgeheim wissen die Schweizer, dass Gislason sich dieses Vorgehen leisten kann.

Die Schweizer Handballer treffen an der WM in Herning am Freitagabend um 20 Uhr 30 auf Deutschland, nachdem sie zum Auftakt gegen Tschechien einen Punkt gewonnen haben. Schon wieder Deutschland. Leider. Hinter vorgehaltener Hand sprechen manche Spieler von einem «Angstgegner». Vor einem Jahr, in Düsseldorf, da träumte die Schweizer Equipe gross. Im Eröffnungsspiel der Europameisterschaft traf sie auf Deutschland, im Fussballstadion von Fortuna Düsseldorf, vor über 53 000 Zuschauern. Weltrekord.

An der EM 2024 wähnten Schweizer Fans ihr Team auf Augenhöhe

Viele Schweizer Fans wähnten die eigene Mannschaft auf Augenhöhe, weil die Deutschen in einem Umbruch steckten. Sie glaubten, dass der Gegner am Druck einer Heim-EM vor Rekordkulisse zerbrechen würde. Sie hofften auf die Sensation – mit einer gehörigen Portion Häme, die immer aufkommt, wenn Deutschland im Sport versagt. Scheitern die deutschen Fussballer wie an den letzten zwei Weltmeisterschaften in der Vorrunde, ist die Freude hierzulande fast genauso gross wie bei einem Sieg der Schweizer Equipe.

Endlich dem grossen Nachbarland ein Bein stellen, jetzt auch im Sport, nicht nur bei der Pünktlichkeit der Züge. So lautet das Motto vor jedem sportlichen Duell mit Deutschland, auch an der letzten Handball-Europameisterschaft. Aber Deutschland gewann 27:14. Typisch, das sei halt eine Turniermannschaft, hörte man da und dort – mit neidischem Unterton. Weil die Deutschen meist bereit sind, wenn es zählt – im Gegensatz zur Schweiz.

Gegen Frankreich oder Dänemark im Handball, gegen Kanada oder Schweden im Eishockey, gegen England oder Brasilien im Fussball verkraften Schweizer Fans eine Niederlage. Sie akzeptieren, dass der Gegner besser war. Im Fall von Deutschland gilt das nicht. Schweiz – Deutschland ist eine beliebte Affiche, um das Klischee vom Zweikampf zwischen grossem und kleinem Bruder zu zementieren.

Von einem Sieg in einem Testspiel zehren die Schweizer monatelang

Die Bundesliga, sei es im Handball oder im Fussball, ist für Schweizer Spieler der heilige Gral. Die Anzahl hiesiger Fussballer in der Bundesliga gilt als Indikator dafür, wie erfolgreich im Schweizer Nachwuchs und in den Klubs der Super League gearbeitet wird. Kürzlich ätzte ein anonym zitierter Spielerberater in den «CH Media»-Zeitungen, dass in den Schweizer Stadien mittlerweile nur noch zweitklassige Scouts statt die Sportchefs deutscher Fussballklubs sässen.

Die Handballer hingegen freuen sich, dass die Bundesliga-Klubs ihrer Sportart die Schweizer Liga seit einigen Jahren auf «dem Radar» haben. Die Schweizer müssen sich fühlen wie ein kleiner Bruder, der sagt: «Seht her, ich kann auch etwas!» 2019, oh Wunder, gewann die Schweiz nach 19 sieglosen Jahren in einem Testspiel gegen Deutschland. Von diesem Erfolg zehrte die Equipe monatelang, er wurde von Trainern und Spielern immer wieder als Beweis für den Aufschwung des Schweizer Handballs angeführt.

Anfang Januar wurde der Wechsel von Gino Steenaerts, einem 19-jährigen Luzerner, zu den Rhein-Neckar Löwen bekannt, einem Spitzenklub der Bundesliga. Der Schweizer Nationaltrainer Andy Schmid sagt darüber: «Für unsere Liga ist dieser Wechsel ein Ritterschlag.»

Unter Handballern gilt als Fakt, dass die Bundesliga die «beste Liga der Welt» ist. Dieses Prädikat haben die Deutschen ihrer Liga übrigens selbst verpasst, die Konkurrenz in Frankreich oder Spanien ignorierend. Sie taten es mit einem Selbstvertrauen, das Schweizer vordergründig ärgert, um das sie die Nachbarn in Wahrheit aber beneiden.

Besonders schlimm litten die Fans hierzulande im Eishockey. Im Fussball und Handball ist sich jeder Schweizer insgeheim bewusst, dass Deutschland eine sogenannt «grosse Nation» ist. Viermal Weltmeister im Fussball, dreimal im (Hallen)-Handball. Mehrfacher Olympia-Medaillengewinner in letzterer Sportart, zuletzt vergangenen Sommer, als Deutschland in Paris die Silbermedaille gewann.

Im Eishockey, glaubte die Schweiz, seien die Rollen von grossem und kleinem Bruder vertauscht. Weit gefehlt. Die Schweiz scheiterte an den WM 2021 und 2023 im Viertelfinal am kleinen grossen Bruder, dazu 2018 an den Olympischen Spielen in Pyeongchang. Der Viertelfinal-Erfolg der Schweiz an der WM im vergangenen Frühjahr wurde als grosser Befreiungsschlag gepriesen.

Ein tief verwurzelter Minderwertigkeitskomplex

Woher die ausgeprägte Rivalität der Schweiz mit Deutschland im Sport kommt, darüber lässt sich nur mutmassen. Eine Rolle dürfte der tief verwurzelte Minderwertigkeitskomplex des kleinen Bruders sein, verbunden mit gleicher Sprache und Kultur. Schweizer wünschen sich, es den Deutschen auch im Sport zu zeigen. Zu mehr als einem 1:1 in der Vorrunde der Fussball-EM 2024 hat es bisher aber nicht gereicht.

Die Handballer traten gegen Deutschland im vergangenen November in der EM-Qualifikation zur Revanche für die krachende Niederlage in Düsseldorf an. Sie verloren erneut – mit neun Toren Unterschied. Von einem Sieg im zweiten Gruppenspiel der laufenden WM in Herning träumt niemand mehr. Der Schweizer Nationaltrainer Schmid sagt: «Wir sind in den letzten beiden Duellen mit einer völlig falschen Wahrnehmung ins Spiel gegangen. Das darf uns nicht mehr passieren.»

Schmid weiss, wie stark die Deutschen sind, er hat selbst zwölf Jahre in der Bundesliga gespielt. Fünfmal wurde er in dieser Zeit zum wertvollsten Spieler gewählt, er wurde Meister und Cup-Sieger.

Seitdem ist im deutschen Handball immerhin nicht mehr von den «kleinen Schweizern» die Rede. Jedenfalls nicht öffentlich.

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