Ein Zehn-Punkte-Manifest fordert den Bundesrat auf, die Neutralität auf das Verbot des Angriffskriegs auszurichten. Eine verstockte Debatte erhält neuen Sauerstoff.

Der Ärger über das Zögern und Zaudern des Bundesrats trieb sie aus dem Ruhestand an die Öffentlichkeit: Eine Gruppe Intellektueller, angeführt vom emeritierten Staatsrechtsprofessor Thomas Cottier und dem freisinnigen alt Ständerat René Rhinow, dachte in den vergangenen Monaten engagiert und auch enerviert über die schweizerische Neutralität nach. Am Mittwoch präsentierten die sieben streitbaren Weisen vor den Medien ihr Zehn-Punkte-Manifest.

Ausgelöst wurden diese tuskulanischen Gespräche von der strikten Weigerung des Bundesrats, die Wiederausfuhr schweizerischer Rüstungsgüter an die Ukraine zu bewilligen. Deutschland wollte Schweizer 35mm-Munition für die Bodenluftverteidigung liefern, Dänemark ausgemusterte Piranha-Schützenpanzer. Doch die Schweiz sagte Nein und begründete dies vor allem mit der Neutralität und nicht mit dem restriktiven Kriegsmaterialgesetz.

Keine Abschaffung der Neutralität

«Der Ukraine-Krieg bestätigt und führt klar vor Augen, dass die einzelnen Bausteine der schweizerischen Neutralitätspolitik nicht mehr zueinander passen», analysiert die Gruppe in der Einleitung ihres Manifests. Tatsächlich übernimmt der Bundesrat einerseits die Sanktionen der EU gegen Russland und verurteilt damit den russischen Überfall auf die Ukraine, betont aber in der dazu gehörenden Verordnung die militärische Äquidistanz zwischen den Konfliktparteien. Die Schweiz unterscheidet also nicht zwischen dem Angreifer und dem Verteidiger.

Der Bundesrat stützt sich auf die Haager Landkriegsordnung von 1907, in deren Anhängen auch die Rechte und Pflichten der Neutralen geregelt sind – unter anderem auch das Gleichbehandlungsgebot. Eigentlich hätte die Schweiz bei den Verhandlungen solche Vorschriften vermeiden wollen, um im Krieg ein Maximum an Handlungsfreiheit zu erhalten. Doch Bundesrat Giuseppe Motta habe sich nicht durchsetzen kommen, erzählte Marco Jorio, Mit-Manifestant und Autor einer umfassenden Neutralitätsgeschichte, vor den Medien.

Sowieso stamme die Haager-Landkriegsordnung aus einer Zeit der imperialen und kolonialen Kriege: «Inzwischen wurden der Angriffskrieg (Briand-Kellogg Pakt 1928) und die Anwendung von zwischenstaatlicher Gewalt (Uno-Charta 1945) verboten», steht im Manifest. Die Haager-Konventionen tauge in heutigen Konflikten nicht mehr als Basis der schweizerischen Neutralität. Ganz im Gegenteil: Die Schweiz sei als Uno-Mitglied gar nicht mehr berechtigt, Täter und Opfer gleich zu behandeln.

Die Autoren des Manifests wollen die Neutralität aber nicht abschaffen, weil sie nach wie vor «eine Bedeutung für die schweizerische Identität» habe. Dazu sei sie «historisch gewachsen» und «tief verankert». Das Programm einer «Neutralität 21» ist deshalb der Versuch einer Aufdatierung – und damit geistige Frischluft für eine dringende Debatte. In zehn Punkten wird versucht, die Tradition von Jahrhunderten mit einer modernen Auslegung des internationalen Rechts zu verbinden.

Die Forderungen des Manifests verfolgen drei Stossrichtungen:

  1. Mehr Handlungsfreiheit: Die Neutralität wird als aussenpolitisches Instrument definiert und soll nicht «verrechtlicht» werden. Mit anderen Worten: Der Bundesrat soll sich von unnötigen Fesseln befreien.
  2. Friedens- statt Kriegsneutralität: Die Guten Dienste werden nicht infrage gestellt, allerdings soll die militärische Neutralität nur solange gelten, als sie der Sicherheit der Schweiz diene und «nicht Staatsziele und Werte der internationalen Beziehungen gefährdet». Gemeint ist vor allem das Selbstverteidigungsrecht angegriffener Staaten: Die Schweiz soll alles unterlassen, «was den Aggressor begünstigen könnte». Das bedeutet eine Neutralität von Fall zu Fall.
  3. Schlagkräftige Armee: Diese soll einer glaubwürdigen Sicherheitspolitik dienen – «unabhängig davon, ob die Schweiz neutral ist oder nicht». In Friedenszeiten müsse die Armee die Kooperation mit der Nato und der EU trainieren, um sich im Fall eines Angriffs «gemeinsam mit den demokratischen Rechtsstaaten» gemeinsam verteidigen zu können.

Weiter fordert das Manifest eine Anpassung des Embargogesetzes: Der Bundesrat soll eigene Sanktionen ergreifen können. Ausserdem braucht es laut Manifest eine Revision des Kriegsmaterialgesetzes, um die Ausfuhr von Waffen und Munition mit den aussen- und sicherheitspolitischen Interessen der Schweiz zu verbinden.

Bereits neunzig Persönlichkeiten haben das Manifest unterzeichnet – unter anderen alt Bundesrat Kaspar Villiger, der ehemalige Generalstabschef Arthur Liener oder Sanija Ameti, die Ko-Präsidentin der Operation Libero. Die aktiven Parlamentarierinnen und Parlamentarier waren etwas zurückhaltender. Aus dem Nationalrat haben unter anderen Maja Riniker und Simon Michel, beide FDP, unterschrieben – oder die beiden Mitte-Frauen Elisabeth Schneider-Schneiter und Nicole Barandun.

Eine Ansage an die Politik

Kräftig über ihren eigenen Schatten gesprungen sind die sozialdemokraktische Sicherheitspolitikerin Priska Seiler Graf und die SP-Ständerätin Franziska Roth. Trotz ihrer kritischen Distanz zur Armee unterstützen sie das Manifest in seinen Grundzügen.

Der Bundesrat will in den nächsten Monaten einen Expertenbericht zur Sicherheitspolitik veröffentlichen. Die Kommission unter der Leitung des ehemaligen Präsidenten des Arbeitgeberverbands Valentin Vogt soll auch Impulse zur Neutralität enthalten. Der Zehn-Punkte-Plan setzt bereits einen klaren Kontrapunkt. Das Manifest richtet sich aber nicht nur an den Bundesrat, sondern steht auch im Kontext der Neutralitätsinitiative. Die SVP will eine orthodoxe Auslegung der Neutralität in der Verfassung festschreiben.

Die Manifestanten wollen aber nicht auf den Abstimmungskampf warten, sondern schon jetzt eine Neutralitätsdiskussion erzwingen. Historiker Jorio will damit vor allem den Primat der Politik über die Neutralität zurückgewinnen: «Sie ist ein politisches Instrument, und nicht ein Instrument der Völkerrechtler.»

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