Samstag, Oktober 5

In einem neuen Essayband versucht der in der Schweiz lebende Schriftsteller, die russische Literatur vor der Vereinnahmung durch den neoimperialen Staat zu retten.

Als Michail Schischkin 1995 nach Zürich zog, schrieb er als erstes ein Buch über die Präsenz russischer Schriftsteller in der Schweiz. Mit grosser Sachkenntnis und Feinfühligkeit zeichnete er in «Russische Schweiz» die Spuren von Tolstoi, Dostojewski, Nabokov und Solschenizyn in verschiedenen Kantonen nach. Er verstand sich auch selbst nicht als Exilautor, sondern als Intellektueller, der seine eigene Kultur mit sich trägt.

Damit machte er – auch für sich selbst – klar: Seine Übersiedlung war keine Ausreise aus Russland, sondern ein Ankommen in einer geistigen russischen Heimat, die es in der Schweiz schon immer gegeben hatte.

«Unter mir die Leere»

Heute steht Schischkin vor dem umgekehrten Problem. Russland selbst ist ihm fremd geworden. Er bekennt: «Mein ganzes Leben habe ich unter meinen Füssen eine feste Grundlage gespürt, und das war die russische Kultur. Nun befindet sich unter mir die Leere.»

Dieser Satz stammt aus dem Nachwort eines Essaybandes, den Schischkin im neuen eBook-Verlag seines Freundes Boris Akunin veröffentlicht hat. Akunin gehört zu den führenden Schriftstellern Russlands. Als erklärter Putin-Gegner lebt er seit zehn Jahren in Westeuropa. Die russischen Behörden erklärten ihn Ende 2023 zum «Terroristen» und «Extremisten». In der Folge erhielt Akunin keine Honorare mehr für seine Bücher, die in Russland verkauft werden. Darauf gründete er selbst einen Exilverlag, in dem er neben seinen eigenen Büchern auch Werke anderer oppositioneller Autoren vertreibt.

Schischkin will mit seinem Essayband die russische Literatur vor der Vereinnahmung durch den neoimperialen Staat retten. Der Titel «Mein» ist Programm. Die einzelnen Kapitel stellen «meinen Puschkin», «meinen Gogol», «meinen Turgenjew», «meinen Dostojewski», «meinen Tolstoi» und «meinen Tschechow» vor.

Es handelt sich um sehr persönliche Lektüren der russischen Klassiker, die sich je auf ihre Weise an der russischen Regierung und an der russischen Gesellschaft abarbeiteten. Umgekehrt projizierten Generationen von Lesern ihre Sehnsüchte auf den innersten Kanon der russischen Literatur. Gerade der Nationaldichter Puschkin wurde zum Ziel ausgeklügelter Kulturtechniken. Die sowjetische Intelligenzia entwickelte eine effiziente Überlebensstrategie: «Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und den Kindern – Puschkin». Unter den Bedingungen des totalitären Regimes wurden die Schüler in das Reservat einer angeblich heilen russischen Kultur eingeführt. Allerdings erwies sich dieser Rückzug als Illusion.

Nach Lenin fällt Puschkin

Besonders deutlich zeigt sich die politische Aufladung Puschkins an den aktuellen Denkmalzerstörungen in der Ukraine. Nachdem die meisten Leninstatuen geschleift worden sind, geht es nun dem bronzenen Puschkin an den Kragen. Schischkin weist darauf hin, dass die Puschkin-Denkmäler nicht abgerissen werden, weil er schlecht geschrieben habe, sondern weil ihn das Putin-Regime instrumentalisiere: Seine Büsten erschienen in der Ukraine als Symbole der russischen Kolonialmacht.

Mit seinen Essays über die russische Literatur führt Schischkin keinen Verteidigungskampf gegen die ukrainischen Bilderstürmer, sondern gegen die Puschkinisierung des russischen Angriffskriegs. In Cherson und Mariupol wurden Plakatwände mit dem Konterfei des russischen Nationaldichters aufgestellt. Solchen kulturellen Aneignungen stellt Schischkin sein entschiedenes «Mein» entgegen.

Michail Šiškin: Moi. Ėsse o russkoj literature. BAbook, London 2024. 362 S., $ 7.99.

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