Freitag, Oktober 18

Wachstumsgegner wollten die Migros 1980 zu einem Versuchslabor für alternatives Wirtschaften umfunktionieren. Das Vorhaben scheiterte. Doch einige der Ideen der Gruppierung setzten sich zum Teil Jahre später durch.

«Es gibt wohl kein anderes Handelsunternehmen, das seinen Auftrag, die Warenverteilung zu organisieren, derart hervorragend gelöst hat wie die Migros. Dieses Unternehmen ist punkto Leistungsfähigkeit auf der Welt wohl fast einmalig.» Das schrieben 1980 die Vertreter des sogenannten M-Frühlings, einer linksalternativen Gruppe, die plante, den Grossverteiler an die Kandare zu nehmen. Anführer der Bewegung war Hans A. Pestalozzi, langjähriger Leiter des Migros-Think-Tanks Gottlieb-Duttweiler-Institut, der 1979 fristlos entlassen worden war.

Angesichts der gegenwärtigen Negativschlagzeilen vergisst man leicht, dass die Migros damals dank ihrer Dynamik und den grossflächigen Einkaufsläden (den neu entstandenen MMM-Zentren) im Schweizer Detailhandel noch das Mass aller Dinge war.

Heute kann sich das Unternehmen nicht mehr mit seiner Leistungsfähigkeit brüsten. Es leidet an Ertragsschwäche, an überkomplexen Strukturen und Doppelspurigkeiten und muss sich einer Rosskur unterziehen. Firmenteile werden verkauft und Stellen gestrichen. Die Aura der Einmaligkeit ist längst verblasst.

Paradoxerweise waren es in den späten 1970er Jahren gerade die guten Geschäfte der damals noch kraftstrotzenden Migros, die die Protagonisten des M-Frühlings störten. Der Erfolg, meinten sie, habe bedenkliche Ausmasse angenommen und angesichts einer langen Phase der «ungehemmten Expansion» sei die Migros zu einem bedrohlichen Koloss geworden.

Vom Migrosaurier zum menschlichen Mass

Die Kritiker waren stramme Vertreter des in den 1970er Jahren herrschenden Zeitgeists, als alles, was mit Grösse und Wachstum zu tun hatte, beargwöhnt und abgelehnt wurde – eine Reaktion auf den langanhaltenden Boom der Nachkriegswirtschaft.

Das Manifest der Kritiker war das 1980 von Hans A. Pestalozzi publizierte Buch «M-Frühling – vom Migrosaurier zum menschlichen Mass», das stark von Ernst F. Schumachers «Small is beautiful – die Rückkehr zum menschlichen Mass» (1973) inspiriert war und auch Anleihen bei Dennis Meadows «Grenzen des Wachstums» (1972) gemacht hatte. Den M-Frühling-Vertretern ging es darum, zu zeigen, wie es wäre, wenn man Schumachers und Meadows’ Anti-Wachstums-Thesen im konkreten Fall eines Detailhändlers in die Praxis umsetzen würde.

Die Migros mit ihren genossenschaftlichen Strukturen schien für ein solches Experiment ideal zu sein. Beim M-Frühling ging man davon aus, dass sich die Macht im Konzern auf demokratischem Weg erlangen liesse – und zwar mithilfe der Genossenschafter-Basis. Diese wäre von den Alternativideen sicher zu begeistern. Im Juni 1980 standen Wahlen zur Neubesetzung der Gesellschaftsorgane an. Und diese wollte man nutzen, um M-Frühling-Vertreter in führende Positionen zu bringen. Das sollte der Auftakt zu einer radikalen Kurskorrektur sein.

Zwänge der industriellen Zeit überwinden

Welche Ziele die Gruppe verfolgte, lässt sich der «Migrosaurier»-Publikation entnehmen. Das Buch umfasst eine Sammlung von Beiträgen verschiedener Autoren, die beim Verfassen ihrer Texte – zu Themen wie «Kultur für alle», «Lebensfreude statt Raubbau», «Jute statt Plastik» – ihren visionären Phantasien freien Lauf gelassen hatten. Es galt, die Qualen der Moderne zu überwinden: «Die Möglichkeit, hier nun endlich einen Schritt aus der industriellen Zeit mit ihren existenziellen Zwängen in die nachindustrielle oder nachmoderne Zeit mit ihren höheren Zielsetzungen zu tun, ist einmalig.»

Obwohl das Migros-Management wenig Neigung zeigte, auf die versponnenen Ideen der Gruppe einzugehen, ist doch bemerkenswert, dass einige der vom M-Frühling vorgebrachten Anregungen im Unternehmen nach und nach Anwendung fanden. Das geschah zum Teil erst Jahre später und freilich auch schlicht aufgrund des gewandelten Zeitgeists.

Dazu zählen etwa der Fokus auf Bioprodukte, die Einführung von Öko- und Fair-Trade-Labels, Etiketten mit detaillierten Angaben über die Herkunft der Waren oder die Förderung von regionalen Produkten. Dass diese Neuerungen ohne radikale Kurskorrektur Aufnahme fanden, zeigt, dass der «Koloss» trotz allem in hohem Masse anpassungsfähig war.

Der M-Frühling verfolgte aber auch Ziele, deren Realisierung nicht weniger als das Ende der Migros als kommerzielles Unternehmen bedeutet hätte. Die Rückkehr zum «menschlichen Mass» implizierte eine Abkehr von Machtballung und Zentralisierung und eine Aufspaltung des Konzerns in «menschengerechte Einheiten»; als Grundübel galten die «Monstrum-Einkaufszentren».

Auf jede weitere Expansion und das dadurch beschleunigte Lädelisterben sollte verzichtet werden. «Menschengerecht» bedeutete auch, dass man sich nicht länger von betriebswirtschaftlichen Erwägungen leiten liess, bei denen «der Buchhalter, der Revisor, der Kontrolleur den Ausschlag geben». Überlegungen zur Gewinnmarge dürften auch keine Rolle mehr spielen, «wenn ein bestimmter Artikel gewünscht wird und er ökologisch vertretbar ist». Migros sollte sich endlich von der «unheimlichen Lenkkraft der privatwirtschaftlichen Rentabilität» lösen.

Sozialkitsch in den «Inseln der Zukunft»

Wie die postindustrielle Welt dereinst aussehen würde, zeigte die Beschreibung von «Inseln der Zukunft», die anderswo in der Subkultur im Rahmen von selbstverwalteten Kollektiven damals im Kleinformat bereits Realität waren: «Hier ein anregender Buchladen, dort eine Druckerei, der Käse von den Neu-Walsern, das Spielzeug aus der Wärchstube, der Schlummerbecher im ‹Kreuz›, der Dessert im ‹Rössli› . . .»

Was sich die M-Frühling-Vertreter erträumten, war nicht eine postindustrielle, sondern eine vorindustrielle Welt ohne Massenproduktion und Massenkonsum – genau jene Errungenschaften der Moderne also, die Migros genutzt hatte, um mit preisgünstigen Waren Wohlstand für alle zu schaffen.

Nach Meinung der M-Frühling-Protagonisten sollte der Umbau der Migros nur ein erster Schritt sein in Richtung einer Demokratisierung der gesamten Wirtschaft und der Schaffung einer sozialistischen Ordnung. Hier erfuhren die Ideen von Schumacher und Meadows eine Erweiterung um einen Herzenswunsch der Alt-68er: die Vorstellung, dass in einer postindustriellen Welt die Grundregeln der Wirtschaft ausser Kraft gesetzt seien und alle Sachzwänge, die aus der Knappheit der Ressourcen erwuchsen, auf wundersame Weise aufgehoben wären.

Mit der Idee, dass die Migros zum Versuchslabor für Weltverbesserer werden sollte, konnte das Management, das unter der Führung des machtbewussten und nüchternen Präsidenten Pierre Arnold stand, wenig anfangen. Die Verantwortlichen räumten zwar ein, dass die Kritiker wichtige Fragen aufgeworfen hätten; der Marketingleiter, Erich Gugelmann, insistierte jedoch, dass die Unternehmenspolitik auf «ökonomischen Prinzipien» beruhen müsse; man könne das Rad nicht zurückdrehen und unrationell zu arbeiten beginnen, und er appellierte an den gesunden Menschenverstand der Kritiker: «Meine Herren, wir müssen doch machbare Lösungen finden.»

Keine Experimente!

Bei den Wahlen im Juni 1980 zeigte sich dann, dass die M-Frühling-Ideen auch an der Genossenschafterbasis wenig Anklang fanden. Die Repräsentanten des Konzerns obsiegten haushoch, die Vertreter der Alternativen kamen auf einen Stimmenanteil von 20 Prozent. Sie hatten die Experimentierfreudigkeit der Genossenschafter offensichtlich überschätzt; sie waren ja auch Konsumenten, und für diese war die Migros im Wesentlichen ein Supermarkt, der sich auf das Angebot von guten und preiswerten Waren konzentrieren sollte.

Überschätzt hatten die M-Frühling-Vertreter auch die Möglichkeiten, die Grossgenossenschaft Migros mit basisdemokratischen Mitteln umzugestalten. Der Firmengründer Gottlieb Duttweiler hatte das Unternehmen 1940 zwar der Schweizer Bevölkerung «geschenkt», ein volkseigener Betrieb war die Migros aber nie, und echte Wahlen der Führungskräfte (mit Kandidaten und Gegenkandidaten) hatten nie stattgefunden.

Das war durchaus im Sinne von Duttweiler; bereits 1968 hatte er in der Migros-Zeitung «Brückenbauer» erklärt, dass «zu viel Demokratie die Geschäftsleitung in ihren Entscheidungen hemmt». Die Verwaltung, die einer heterogenen Masse von Genossenschaftern gegenüberstand und so faktisch nicht zu kontrollieren war, verfügte in der Tat über eine riesige Machtfülle.

Und diese setzte sie im Wahlkampf 1980 auch ein, um die Kampagne der M-Frühlings-Vertreter zu hintertreiben und sie von den Führungsposten fernzuhalten. An diesem enormen Gefälle zwischen den Genossenschaftern als Eigentümern und der Verwaltung als deren Beauftragte hat sich bis heute nichts geändert.

Keine Zurückhaltung beim Wachstum

Nach geschlagener Schlacht zeigte sich der Migros-Chef Pierre Arnold grossmütig. Es sei unverkennbar, erklärte er, dass ein Teil der Genossenschafter der Grösse und Expansion des Unternehmens kritisch gegenüberstehe: «Das müssen wir hören und in die Politik der Zukunft umsetzen.»

Von Zurückhaltung bei der Expansion der Aktivitäten war in der Folge freilich nicht viel zu spüren. Von 1980 bis 1995 verdoppelte sich der Konzernumsatz mit jährlichen Wachstumsraten von bis zu 9 Prozent auf 16 Milliarden Franken, und auch danach ging die Ausweitung vor allem dank Zukäufen ungebremst weiter.

Was auch immer Arnold gesagt hatte: Bei Migros dachte man nie im Ernst daran, das bewährte Migros-Modell aufzugeben – also die Nutzung von Grössenvorteilen, um Produkte zu bezahlbaren Preisen anbieten zu können.

Weniger dynamisch verlief die Entwicklung bei den Gewinnen. Wie sich zeigte, haben sich vor allem in letzter Zeit die Jahresabschlüsse gehäuft, in denen die vom Unternehmen selbstgesteckten Margenziele nicht mehr erreicht wurden. In vielen Fällen erwiesen sich die Akquisitionen, die die Migros im Laufe der Jahre in grosser Zahl getätigt hatte, als Verlustquellen, weshalb man sich von ihnen trennt.

Das Unternehmen wird nun doch noch vom falschen Versprechen Arnolds eingeholt: Wenn man schon weiterhin «ungehemmt» expandierte, hätte man auch der «unheimlichen Lenkkraft der Rentabilität», welche die M-Frühling-Exponenten noch kritisiert hatten, die gebührende Beachtung schenken müssen.

Quellen: Hans A. Pestalozzi (Hg): M-Frühling. Vom Migrosaurier zum menschlichen Mass. Bern 1980; Katja Girschik e. a. (Hg.): Der Migros-Kosmos. Zur Geschichte eines aussergewöhnlichen Schweizer Unternehmens. Baden 2003.

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